Kategorie: Filmbesprechung
"Die Reifeprüfung"
The Graduate
Benjamin, Anfang 20, kommt mit exzellentem Abschluss, aber voller Zweifel zurück vom College. Die bürgerlichen Ideale seiner Eltern kommen ihm plötzlich "grotesk" vor. Wiederaufführung zum 50. Jubiläum.
Unterrichtsfächer
Thema
An seinem 21. Geburtstag soll Benjamin das Geschenk der Eltern, einen teuren Taucheranzug, im familieneigenen Pool vorführen. Wie ferngesteuert stapft er zum Becken. Die Kamera nimmt seine Sicht aus der ovalen Taucherbrille heraus ein, die lebhaften Kommentare der elterlichen Gäste verstummen. Ben taucht ab und verharrt reglos auf dem Beckengrund. Wasser und Neopren schotten ihn doppelt von seiner Umwelt ab, die Kamera gleitet zurück (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen). Endlich Ruhe.
Die ikonografische Schlüssel- Zum Inhalt: Szene aus Mike Nichols' "Die Reifeprüfung" bringt den Zum Inhalt: Coming-of-Age-Film auf den Punkt. Der brave Sohn aus gutem Haus lebt ganz im Sinn der spießigen Eltern; bevor er rebellieren kann, muss er die Fremdbestimmung überwinden und entsprechend handeln. Die Zum Inhalt: Adaption des 1963 publizierten Romans von Charles Webb machte Dustin Hoffman weltberühmt, bescherte Nichols einen Regie-Oscar® und begründete ein neues, wilderes Hollywood.
Ein anderes Leben – aber welches?
Benjamin Braddock hat das College mit vorbildlichen Noten absolviert. Ihm stehen alle Türen offen, doch statt sein Leben in die Hand zu nehmen, plagt er sich mit Zukunftsängsten. Bisher folgte er stets dem Willen der Eltern, nun dämmert ihm, dass er "anders" leben will. Nur was für ein Leben soll das sein? In die Sinnkrise platzt Mrs. Robinson, die Ehefrau eines Geschäftspartners des Vaters. Die doppelt so alte Dame verführt den Sohn ihrer Freunde unverblümt zu einer Affäre, die den Sommer über andauert. Bis sich Ben in Elaine verliebt, die junge Tochter seiner Bettgefährtin.
Der Witz des Films liegt dabei weniger in der simplen Handlung als in der einprägsamen Charakterzeichnung. Mike Nichols und die Zum Inhalt: Drehbuch-Autoren Calder Willingham und Buck Henry schaffen sehr nuancenreiche, glaubhafte Figuren. Hoffman vermittelt die einschneidende Wandlung des tapsigen Jünglings mit vielen kleinen Gesten, Anne Bancroft spielt die verführerische Mrs. Robinson mit einer reizvollen Mischung aus Sachlichkeit, kühler Erotik und spöttischer Ironie. Im Vergleich zu Benjamin und Mrs. Robinson bleibt die von Katharine Ross gespielte Elaine etwas blass. Als "gutes Mädchen" fügt sie sich den Normen, beginnt eine Beziehung mit dem glatten Karrieristen Carl und willigt auf Drängen der Mutter sogar ein, diesen zu heiraten.
Coming-of-Age in einer Zeit des Umbruchs
Wie ein klassischer Bildungsroman (etwa Goethes Wilhelm Meister) stellt "Die Reifeprüfung" die Charakterentwicklung der jugendlichen Hauptfigur ins Zentrum und lieferte eine viel zitierte Vorlage für folgende Coming-of-Age-Filme. Die Zum Inhalt: Exposition führt Benjamin als unbedarften Jungen ein, beim Finale agiert er als zupackender Kerl und beendet seinen Reifeprozess mit einem großen Knall.
Auf dem Weg dahin bilden die materialistischen Eltern den Gegenpol zur Orientierungslosigkeit des Sohns. Mit ihnen scheint eine ehrliche Kommunikation unmöglich: Fragen halten die Gespräche mühsam in Gang, Antworten verpuffen oder bleiben aus. Nach und nach verschwinden die Erwachsenen im Gegenlicht (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) und in der Unschärfe (Glossar: Zum Inhalt: Tiefenschärfe/Schärfentiefe). Nichols zeigt die amerikanische Gesellschaft Mitte der 1960er-Jahre im Umbruch, gezeichnet von Vietnamkrieg, Jugendrebellion und sexueller Revolution. Die kalifornische Oberschicht bleibt von den gegenkulturellen Ideen nicht verschont.
Ein neuer Sound für ein neues Hollywood
"Die Reifeprüfung" entstand in einer Übergangsphase, in der Hollywoods Studiosystem seit etwa zehn Jahren in einer Krise steckte. Zusammen mit Arthur Penns Gangsterfilm "Bonnie und Clyde" (USA 1967) kündigte Nichols' Film so die Ära des Zum Inhalt: New Hollywood an. Nach dem Vorbild der französischen Nouvelle Vague modernisierten nun auch in den USA meist junge Regisseure – Regisseurinnen gab es in Hollywood weiterhin selten – die Filmsprache. Eine stilprägende Innovation war etwa Nichols' Einsatz von Popmusik. Der Soundtrack (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) des Folk-Rock-Duos Simon & Garfunkel trug wohl entscheidend dazu bei, dass der Film so rasch Kultstatus erlangte. Dabei drückt der Text des bereits 1964 veröffentlichten Songs The Sound of Silence präzise Benjamins Isolation aus: "Hello darkness, my old friend", heißt es etwa in der berühmten ersten Zeile, und später: "People talking without speaking, people hearing without listening".
Beim Auftakt einer der Zum Inhalt: Sequenzen, die in fließenden Übergängen (Glossar: Zum Inhalt: Montagesequenz) Zeit verrinnen lassen, montiert (Glossar: Zum Inhalt: Montage) Nichols das "Hello darkness" auf ein Schwarzbild, was eine Symbiose zwischen Bild und Musik erzeugt. Auch der Songtitel (auf Deutsch: der Klang der Stille) findet in vielen stummen oder sprachlosen Zum Inhalt: Szenen Entsprechung. Den zweiten großen Hit des Soundtracks, den für den Film komponierten Charterfolg Mrs. Robinson, setzt Nichols auf ähnliche Weise ein: Die versöhnliche Ode an die untreue Ehefrau und eifersüchtige Mutter ("And here's to you, Mrs. Robinson!“) beschleunigt beim rasanten Finale die ohnehin flotte Erzählgeschwindigkeit; das treibende Gitarrenriff klingt schließlich genau in jenem Moment aus, in dem Bens Cabrio das Benzin ausgeht.
Suche nach Sinn und Orientierung – auch in den Bildern
Die seinerzeit ungewöhnliche Bildgestaltung (Glossar: Zum Inhalt: Bildkomposition) steht ganz im Dienst der Figurenzeichnung. Wiederholt verweisen Point-of-View-Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Subjektive Kamera) darauf, dass der Film Benjamins Perspektive einnimmt. Seine fehlende Orientierung spiegelt sich in einem eleganten Leitmotiv der Zum Inhalt: Mise-en-Scène: Viele Szenen beginnen nicht mit dem üblichen Zum Inhalt: Establishing Shot, sondern mit einem Close-up (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) auf Bens Gesicht. Das sorgt schon in der Eröffnungseinstellung für Verwirrung: Benjamins Kopf ruht auf einem weißen Kissen. Doch wo befindet er sich? Erst ein Rückwärts- Zum Inhalt: Zoom offenbart, dass er im Flugzeug sitzt.
Auf den ersten Blick mündet "Die Reifeprüfung" in ein Happy End. Doch Mike Nichols unterschlägt nicht, dass Benjamins neu erkämpfte Selbstbestimmung kein Allheilmittel für ein zufriedenes Leben darstellt, sondern nur die Basis dafür. Viele der offenen Lebensfragen vom Filmbeginn kann der junge Mann nach wie vor nicht beantworten. Die Zukunft bleibt ungewiss.