Kategorie: Filmbesprechung
"Flow"
Straume
In den Fluten einer Naturkatastrophe kämpft eine Katze ums Überleben. Der lettische Animationsfilm berührt auch, weil er seine Tierfiguren kaum vermenschlicht.

Unterrichtsfächer
Thema
Die schwarze Katze ist ein deutlich künstliches Wesen. Die Oberfläche ihres Körpers ist stark stilisiert, kantige Pixelstrukturen sind an den Rändern noch erkennbar. Und doch bewegt sich die animierte Figur exakt so, wie sich eine echte Katze bewegen würde. Sanft spitzen sich ihre Ohren, wenn sie etwas hört, sie streckt sich, macht einen Buckel, ihre tapsenden Schritte sind anmutig und elegant. Mit einem Blick dieser Katze in eine Pfütze beginnt der Zum Inhalt: Animationsfilm "Flow". Ruhe liegt über dem märchenhaften Wald, der in goldgelbes Abendlicht getaucht ist. Schon am nächsten Morgen allerdings ist nichts mehr so, wie es vorher war.
Wie im Disney-Klassiker "Bambi" (David Hand, USA 1942) das Rotwild in Panik vor dem durch Menschen verursachten Feuer flieht, so flieht es hier vor einer Naturkatastrophe: einer Flutwelle, die schon wenige Sekunden später alles unter sich begräbt. Danach steigt das Wasser unerbittlich, über Bäume, sogar über Berge. Auf einem Boot schließlich findet die Katze Zuflucht, zusammen mit einem Wasserschwein, einem Lemuren und einem Sekretärvogel, später auch einem Labrador.
Ein immersives Erlebnis
Erzählte Gints Zilbalodis in seinem Erstlingsfilm "Away – Vom Finden des Glücks" ("Projām", LV 2019) noch von einem Menschen, der mit einem Motorrad durch eine ebenso fremdartige wie faszinierende Welt fährt, so stellt er nun eine Katze in den Mittelpunkt, die mit den anderen Tieren bald eine ungewöhnliche Zweckgemeinschaft bildet.
Die Handlung verweigert sich einer zwingenden dramaturgischen Struktur (Glossar: Zum Inhalt: Dramaturgie) und fließt vielmehr weitgehend vor sich hin. Mal begegnen die Tiere auf dem Boot einer Gruppe anderer Lemuren, die ein Faible für menschliche Gegenstände aus verlassenen Häusern haben, mal passieren sie eine versunkene Stadt, aus deren Straßen Kanäle geworden sind, oder es kommt zu einem Streit zwischen dem Lemuren und dem Sekretärvogel, als ein Schatz des Äffchens versehentlich über Bord geht. Damit entfaltet "Flow" eine geradezu kontemplative Stimmung, die in starkem Kontrast zu den hektischen Bildern gewöhnlicher Zum Inhalt: CGI-Animationsfilme steht.
Fast schon dokumentarisch wirkt der Film, wenn die Zum externen Inhalt: entfesselte Kamera (öffnet im neuen Tab) der Katze auf ihrem Weg durch den Wald folgt oder sich mit ihr über und unter Wasser befindet. Zum gefühlten Realismus und immersiven Erlebnis tragen neben den Zum Inhalt: Kamerabewegungen auch der Umgang mit Fokussierungen und Zum Inhalt: Tiefenschärfe sowie die naturalistische Lichtstimmung (Glossar:Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) bei.
Wie bereits in "Away" verzichtet Zilbalodis komplett auf gesprochene Sprache. Durch die Zum Inhalt: Filmmusik und das Zum Inhalt: Sound-Design färbt er seine künstliche Welt atmosphärisch ein und lässt sie greifbar werden. Natur- und Tiergeräusche bestimmen die Tonebene. Der Wind heult durch die Blätter und das Geäst, Holz knarzt, Vögel kreischen am Himmel, Wasser rauscht. Von der menschlichen Zivilisation allerdings ist kaum mehr etwas geblieben. Nur noch Statuen und verfallene Gebäude deuten darauf hin, dass dort einmal Menschen gewesen sein müssen. Neugierig streifen die Tiere bisweilen durch diese Spuren des Menschlichen, ohne den einstigen Bewohnern/-innen nachzutrauern – auf das Publikum jedoch dürften die leeren Orte vielmehr wie eine Mahnung wirken.
Poesie und Endzeitstimmung
Überhaupt wechselt "Flow" stetig zwischen Poesie und Endzeitstimmung. Die unbarmherzige Rauheit der Natur lässt der Film spürbar werden, dann wieder lässt er einen gigantischen Wal sich aus dem Wasser erheben und wieder darin verschwinden, begleitet von magischem Licht und einem imposanten Crescendo des Scores (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik). Die Bilder dieser Welt am Abgrund bleiben im Gedächtnis. Sie erzählen über die Naturgewalt, der das Leben an Land ausgeliefert ist, und verweisen auf Bilder realer Naturkatastrophen. Aber sie betonen auch immer wieder die Schönheit und verfallen nicht in Düsternis.
Und doch hatte Gints Zilbalodis nach eigener Auskunft keine Ökofabel im Sinn, als er mit der Arbeit an "Flow" begann. Für ihn stand vielmehr das Zusammenspiel der Figuren im Zentrum, die Geschichte einer Einzelgängerin, die sich nach und nach anderen öffnet und schließlich Teil einer Gruppe, eines Teams wird. Das apokalyptische Setting stellt somit den Hintergrund dar, um vermittelt über weitgehend nicht-anthropomorphisierte Tiere über Zusammenhalt und Solidarität, sogar ein wenig Hoffnung, zu erzählen; Werte, die in dieser Situation umso bedeutungsvoller erscheinen.
So wird das Boot von Katze, Lemur, Sekretärvogel, Wasserschwein und Labrador zu einer Art Arche. Die Tiere beobachten sich darauf, erst skeptisch, dann immer vertrauter. Sie streiten sich auch mal. Aber vor allem lernen sie, nebeneinander und miteinander zu leben. In einer großen dramatischen Rettungsszene kulminiert die Handlung, die noch einmal die Solidarität unter den Tieren ausdrucksstark zur Geltung bringt. Zum Ende hin sinkt das Wasser wieder – und in einer Pfütze spiegelt sich dieses Mal nicht nur ein einziges Tier.