Julia Lemke ist Regisseurin, Kamerafrau und Drehbuchautorin. Ihr Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) schloss sie 2016 mit dem Zum Inhalt: Dokumentarfilm "Schultersieg" ab. Seit 2010 bildet sie mit Anna Koch das Regieduo "Badabum". Zusammen haben beide unter anderem den Dokumentarfilm Zum Inhalt: Glitzer & Staub (DE 2020) gedreht. Zum Filmarchiv: "Zirkuskind" ist ihre aktuelle gemeinsame Regiearbeit.

kinofenster.de: "Zirkuskind" gibt einen Einblick in das Leben der Zirkusfamilie Frank. Wie haben Sie dem 11-jährigen Protagonisten Santino und seiner Familie Ihr Filmvorhaben erklärt?

Julia Lemke: Zirkusse sind stark hierarchisch organisiert, die Hierarchie beginnt beim ältesten Familienmitglied. Deshalb war es uns wichtig, zunächst mit Opa Ehe zu sprechen. Wir haben erklärt, dass wir einen Film für Kinder aus der Perspektive eines Zirkuskindes machen möchten. Uns interessierte nicht nur Santinos Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit der Familie. Aus der Recherche wussten wir, dass ältere Zirkusleute eine Art kollektives Gedächtnis darstellen. Deshalb wollten wir die Achse zwischen Urgroßvater und Enkel zeigen. Als wir mit Ehe zusammensaßen, kam Santino dazu. Er hat sich zu uns gesetzt, neugierig gefragt, was wir vorhaben, und gleich seinen Opa nach weiteren Geschichten ausgefragt. Santino hatte Lust, uns Dinge zu zeigen, oft ganz nonverbal, indem er mit Zirkusaccessoires vorbeikam. Die Tatsache, dass er ein sehr glückliches Kind ist, hat geholfen. Glückliche Menschen zu porträtieren, ist einfacher.

kinofenster.de: Welche Vereinbarung haben Sie mit der Familie getroffen, wann gefilmt wird und wann nicht?

Julia Lemke: Tatsächlich keine. Wir haben gesagt: Wir sind da, und wenn die Kamera läuft, seht ihr das sofort. Ich stelle mich immer sehr direkt vor die Menschen, es ist also schwer zu übersehen, wenn gefilmt wird. Vieles lief über Bauchgefühl: Wann passt es, wann nicht? Gleichzeitig ist der Zirkus eine riesige Maschinerie. Wenn die Vorstellung läuft, muss alles funktionieren. So direkt wie die Familienmitglieder ihre Zuneigung zeigen, so sagen sie auch: "Du stehst im Weg!" Das hat die Zusammenarbeit sehr transparent gemacht.

kinofenster.de: Anders als viele Kinderdokumentarfilme steuert Ihr Film nicht auf einen Wettbewerb oder ein großes Ereignis zu.

Julia Lemke: Wir wussten, dass unser Film keine klassische Spannungsdramaturgie (Glossar: Zum Inhalt: Dramaturgie) haben wird. Es gibt nicht den bösen Fabrikbesitzer, der die Familie vom Gelände verscheuchen will oder sowas. Uns interessierte die Lebenssituation von Kindern, die an einem Punkt stehen, an dem sie entscheiden müssen, welchen Weg sie einschlagen. Die Handlung wird einerseits durch die Geschichten von Opa Ehe strukturiert, andererseits durch die Jahreszeiten. Für Zirkusleute haben sie eine besondere Bedeutung: Ein Zelt im Winter aufzubauen ist etwas ganz anderes als im Sommer. Durch diese wiederkehrenden Abläufe lässt sich außerdem die Familiendynamik sehr gut erkennen.

kinofenster.de: "Zirkuskind" ist ein Film über Santino und zugleich ein Porträt des großartigen Erzählers Opa Ehe. Wie haben Sie die richtige Gewichtung zwischen beiden gefunden?

Julia Lemke: Das Schöne an Santino ist seine unglaubliche Offenheit, er zeigt seine Gefühle ganz unmittelbar. Auch deshalb wollten wir viel beobachtend mit ihm drehen. Immer im Hintergrund stand dabei die Frage, welche Entscheidungen er für seine Zukunft treffen muss. Gleichzeitig ermöglichte uns seine enge Beziehung zu Opa Ehe, die Vergangenheit einzubringen. Opa Ehes Geschichten haben wir in Animationen (Glossar: Zum Inhalt: Zeichentrickanimation) umgesetzt, damit Kinder sie lebendig nachvollziehen können. Wir haben darauf geachtet, wann wir Impulse von ihm brauchen und wann der Fokus auf Santino liegen sollte.

kinofenster.de: Ein zentrales Thema ist der Holocaust, den Opa Ehe in seinen Erinnerungen anspricht.

Julia Lemke: Davon erfuhren wir erst beim Dreh. Opa Ehe erzählte uns vor laufender Kamera von den Erlebnissen seiner Familie. Uns war sofort klar: Diese Geschichte können wir nicht auslassen. Sie ist ein wichtiger Teil ihrer Identität und erzählt auch viel darüber, wie sich die Familie zur Mehrheitsgesellschaft positioniert. Wir haben mit unserem Animationsteam gearbeitet und uns zusätzlich Beratung vom Anne-Frank-Zentrum sowie vom Zentralrat der Sinti und Roma geholt. Dann haben wir Opa Ehe gebeten, die Geschichte so zu erzählen, wie er es einem Kind gegenüber tun würde. Aus diesem Material und in enger Abstimmung mit den Partnern haben wir eine Form gesucht, die respektvoll und zugleich für Kinder nachvollziehbar ist.

kinofenster.de: Sie haben bereits während der Zum Inhalt: Montage Testscreenings mit Kindern durchgeführt. Welche Rolle spielt solche Formen von Co-Creation für Sie?

Julia Lemke: Eine sehr große. Wir waren in der glücklichen Situation, dass wir selbst Kinder im passenden Alter hatten, die uns kontinuierlich Feedback gaben. Sie waren stolz, eigene Ideen einzubringen, und haben uns sogar auf Schnittfehler hingewiesen. Später haben wir weitere Kinder hinzugezogen, um einen frischen Blick zu bekommen. Diese partizipativen Arbeitsweisen sind essenziell, wenn man Filme für Kinder macht.

kinofenster.de: Der Einsatz von Tieren im Zirkus ist ein sensibles Thema. Wie sind Sie damit umgegangen?

Julia Lemke: Wir waren uns von Anfang an bewusst, dass das Thema Tiere wichtig sein wird, auch weil es oft zur Stigmatisierung der Zirkusleute genutzt wird. Deshalb haben wir gezielt einen Zirkus gesucht, in dem es den Tieren gut geht. Dort werden sie regelmäßig von Tierärzten kontrolliert – häufiger als in anderen Betrieben, die mit Tieren arbeiten wie zum Beispiel Ponyhöfe. Die Familie wollte, dass die Tiere unbedingt gezeigt werden, weil sie fester Bestandteil ihrer Identität sind. Wir haben uns entschieden, das authentisch abzubilden und später Gespräche mit Kindern zu führen, wenn Fragen auftauchen.

kinofenster.de: Wie wichtig ist Filmbildung?

Julia Lemke: Was der Welt derzeit am meisten fehlt, ist Empathie. Dokumentarfilm ist ein wunderbarer Weg, um Empathie zu fördern und zu erhalten. Kinder sind von Natur aus empathisch, und wenn sie in einem Film sehen, was in Santinos Leben anders ist und was gleich, dann erweitert das ihre Sichtweise. Das Leben auf dem Zirkusplatz unterscheidet sich vom Alltag vieler Kinder. Aber die Gefühle sind dieselben: Jeder möchte in den Arm genommen werden, jeder streitet mit seinem kleinen Bruder. Solche Filme öffnen die Welt und zeigen, wie vielfältig Leben sein kann.