Kategorie: Einführung
Lehrer Hitchcock
Die Filme von Alfred Hitchcock haben einen anhaltenden Platz in der Filmbildung. Die Einführung erklärt warum und gibt einen Überblick über das Werk des "Master of Suspense".
Ein Schatten tritt in die gezeichnete Silhouette des Meisters, mit markant britischem Akzent ertönt eine Stimme: "Good evening, ladies and gentlemen“. Das berühmte Intro zu seiner TV-Serie "Alfred Hitchcock Presents" (USA 1955-65) zeigt: Der "Master of Suspense" war seine eigene Marke. Mit ähnlichem Körpereinsatz bewarb der korpulente Brite auch seine Kinofilme, etwa im Zum Inhalt: Trailer zu Zum Filmarchiv: "Psycho" (USA 1960), Hitchcocks erfolgreichstem Film. Die berüchtigte Duschmordszene, in dem Filmchen schmunzelnd vorweggenommen, reiht sich ein in eine gespielt "grauenvolle" Präsentation des Zum Inhalt: Filmsets, dessen genaue Erklärung die Spannung – den Zum Inhalt: Suspense – nicht mindern, sondern im Gegenteil steigern sollte.
"Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?"
Nicht erst seit François Truffauts Interviewbuch Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (1966), ein Standardwerk der Filmliteratur, war "Hitch" der maßgebliche Lehrer seines Werks. Die möglichst vollständige Kontrolle über die eigene Erzählung – und das eigene Bild – verrät bereits viel über sein Selbstverständnis als Regisseur von Klassikern wie Zum Filmarchiv: "Das Fenster zum Hof" ("Rear Window" , USA 1954) und Zum Filmarchiv: "Vertigo - Aus dem Reich der Toten" ("Vertigo" , USA 1958). Seine Kunst des Spannungsaufbaus, der suggestiven Kameraführung, des visuellen Erzählens anhand sorgsam komponierter Bilder (Glossar: Zum Inhalt: Bildkomposition) war mehr als eine Methode, eher ein Glaubensbekenntnis, ein ständiges Plädoyer für die ureigene Kraft des Kinos. Hitchcock hielt Vorlesungen darüber, für die Encyclopedia Britannica verfasste er 1965 einen bestechenden Artikel über sämtliche Aspekte der Filmproduktion.
Wenn heute Regiestars in "Masterclasses" vor Filmstudierenden über ihre Arbeit sprechen, stehen sie in der Tradition Alfred Hitchcocks. Doch vor allem ist es sein Werk selbst, das ihm eine Schlüsselposition in der Filmbildung sichert. Um zu verstehen, wie uns Filme manipulieren und verführen, wie sich in Bildern packende und zugleich zutiefst private Geschichten erzählen lassen, eignen sich seine Filme als kaum zu überbietendes Anschauungs- und Lehrmaterial – sei es mit Blick auf das Gesamtwerk, oder in der Analyse einzelner Zum Inhalt: Sequenzen oder auch nur von Zum Inhalt: Einstellungen.
Ideal des "reinen Films"
Seine eigenen Lehrjahre hat Hitchcock, geboren 1899 in London, immer wieder beschrieben. Als technischer Zeichner, Werbegrafiker und Ingenieur ausgebildet, sammelte er frühe Filmerfahrungen im Auftrag der britischen Produktionsfirma Gainsborough in Deutschland. Von den Dreharbeiten zu F. W. Murnaus "Der letzte Mann" (DE 1924), denen der junge Regieassistent als Zeuge beiwohnen durfte, zeigte er sich nachhaltig beeindruckt. Nicht nur sollten später expressionistische Stimmungen (Glossar: Zum Inhalt: Expressionismus) des Weimarer Kinos immer wieder in seinem Werk auftauchen. Die Zum Inhalt: Stummfilme deutscher Regisseure (Glossar: Zum Inhalt: Regie) wie Murnau oder Fritz Lang wurden maßgeblich für sein Ideal des "reinen Films", der auf Texttafeln (Glossar: Zum Inhalt: Insert) weitgehend verzichtete und ausgeklügelte Filmsets und Einstellungen auf Zum Inhalt: Storyboards vorbereitete.
Den absoluten Vorrang des Visuellen konnte er bereits in seinem ersten "richtigen" Hitchcock-Film "Der Mieter" ("The Lodger" , GB 1927) erfolgreich umsetzen, einer Abwandlung der Geschichte von Jack the Ripper in der letzten Phase des Stummfilms. Um die Angst der Hausbewohner vor ihrem unheimlichen Mieter visuell umzusetzen, ersetzte er die Zimmerdecke, unter der dessen Schritte zu hören waren, durch eine Glasplatte – ein klarer Bruch mit dem Realitätsprinzip, das zugleich der Story diente wie dem makabren Effekt. Auch in seinem ersten Tonfilm "Erpressung" ("Blackmail" , GB 1929) rückte er nicht von seinem Prinzip ab, die Geschichte weniger durch die Dialoge als durch Bilder zu erzählen. Alles andere war für ihn bloß "abgefilmtes Theater".
"Suspense" und "MacGuffin"
Hitchcock redete nicht nur offen über seine stilistischen Mittel, einige filmästhetische Begriffe prägte er maßgeblich selbst. Die bekanntesten: Zum Inhalt: Suspense und Zum Inhalt: MacGuffin. Im Gespräch mit seinem französischen Regiekollegen Truffaut unterschied er Suspense (Spannung) von Surprise (Überraschung) und illustrierte dies mit dem Bild der "Bombe unter dem Tisch", von der nur das Publikum weiß. In "Sabotage" (GB 1936) gibt es tatsächlich eine Bombe, die ein nichtsahnender Junge in einem Koffer durch London trägt. Die Frage "Was geschieht als nächstes?", Hitchcocks Grundprinzip des Spannungsaufbaus von Bild zu Bild, wird zur Nervenprobe.
Der MacGuffin ist leichterer Natur und benennt ein an sich völlig unbedeutendes Handlungselement, das gleichwohl den Zum Inhalt: Plot vorantreibt. Dies kann ein Koffer voll Geld sein oder eine militärische Geheimformel wie in "Die 39 Stufen" ("The 39 Steps" , GB 1935), einem der vielen Spionagethriller unter den britischen Tonfilmen Hitchcocks. Wichtig an jener Formel ist allein, dass wegen ihr ein unschuldig Verdächtigter (ein weiteres Hitchcock-Motiv) durch halb Großbritannien gejagt wird. Dass der deutsche Verleih Hinweise auf den Bau der Atombombe im späteren Meisterwerk "Berüchtigt" /"Weißes Gift" ("Notorious" , USA 1946) entfernte und waffenfähiges Uran durch Opium ersetzte, belegt letztlich die These des MacGuffin: Sämtliche Aspekte des Filmemachens vom Zum Inhalt: Drehbuch bis zur Zum Inhalt: Postproduktion sind der spannungssteigernden Wirkung auf das Publikum untergeordnet. Dazu ist jedes Mittel recht.
Die Perfektion des Hitchcock-Thrillers
Seine Kunst des Zum Inhalt: Thrillers perfektionierte Hitchcock in der klassischen Phase, beginnend mit dem Umzug in die USA. "Rebecca" (USA 1940), sein erster Film für Hollywood-Mogul David O. Selznick nach einem Roman von Daphne du Maurier, ist noch der britischen Schauerromantik verhaftet. In Filmen wie "Im Schatten des Zweifels" ("Shadow of a Doubt" , USA 1943) – ein von der Polizei verfolgter Witwenmörder versteckt sich in einer biederen Kleinstadt – tritt Hitchcock in ein Wechselspiel mit dem Zum Inhalt: Film noir. Nach und nach perfektioniert der Brite sein Modell des spannungsgeladenen Thrillers, ersetzt aber auch Genreregeln (Glossar: Zum Inhalt: Genre) immer mehr durch private Vorlieben und Obsessionen. Noch stärker fokussiert die Kamera nun auf die Dingwelt – Messer, Schere, Schlüssel, die Haarlocke einer Frau. Zum auffälligsten Fetisch seiner Filme wird die "Hitchcock-Blondine", eine Femme Fatale, gespielt von Grace Kelly, Kim Novak oder Tippi Hedren. In "Das Fenster zum Hof" , "Der Mann, der zuviel wusste" ("The Man Who Knew Too Much" , USA 1956) und "Vertigo – Aus dem Reich der Toten" , den Filmen der "goldenen Paramount-Ära", manipuliert Hitchcock elementare Ängste und Sehnsüchte des Publikums nach Belieben. Seine Filme gleichen zunehmend Tagträumen, verstärkt durch "unwirkliche" Stilelemente wie Zum Inhalt: subjektive Kamera, Zum externen Inhalt: Rückprojektionen (öffnet im neuen Tab) oder den "Vertigo-Effekt", eine Kombination von Zum Inhalt: Zoom und Kamerafahrt (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen).
Die düstere (Selbst-)Reflexion eines spezifisch männlichen Voyeurismus, die Lust am Makabren und ein pessimistisches Menschenbild schließen zu dieser Zeit Ausflüge ins Komische nicht aus: Die Juwelenraub-Romanze "Über den Dächern von Nizza" ("To Catch a Thief" , USA 1955) begeistert durch luxuriöse Schauplätze und Witz, Zum Filmarchiv: "Der unsichtbare Dritte" ("North by Northwest" , USA 1959) gilt mit denselben Zutaten als "James-Bond" -Vorläufer. Durch zwei Schocker allerdings, "Psycho" und "Die Vögel" ("The Birds" , USA 1963), erfindet sich Hitchcock noch einmal neu und wird endgültig zum "Meister des Schreckens".
Hitchcock in der Populärkultur
Mag uns dieser Lehrmeister des Kinos auch manchmal unheimlich erscheinen, ist sein Wert für die Filmbildung doch unbestreitbar. Die Arbeit mit Storyboards gehört zum Standard des Filmunterrichts, die Suche etwa nach MacGuffins auch in Filmen anderer Regisseur/-innen bereitet besonderes Vergnügen. Hitchcocks Einfluss auf Filmemacher/-innen wie Stanley Kubrick, Roman Polanski, Martin Scorsese, David Lynch oder Kathryn Bigelow ist kaum zu überschätzen. Zugleich gilt: Hitchcock-Filme bleiben einzigartig. Sie sind sofort erkennbar durch ihren Look, das brillante Spiel mit expressiven Farben (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung), stilisierte Filmsets und exzellentes Zum Inhalt: Schauspiel. Stetige Mitarbeiter/-innen wie der Komponist (Glossar: Zum Inhalt: Filmmusik) Bernard Herrmann, Kameramann Robert Burks, der Zum Inhalt: Vorspanngestalter Saul Bass und vor allem Hitchcocks Ehefrau und häufige Cutterin Alma Hitchcock (Glossar: Zum Inhalt: Montage), die vom Drehbuch bis zur Besetzung mitsprach, sorgten für Kontinuität.
Warum also erhielt der Brite zwar einige Preise für sein Lebenswerk, aber bis zu seinem Tod im Jahr 1980 keinen einzigen Oscar®? Tatsächlich waren es die jungen Kritiker der französischen Zum Inhalt: Nouvelle Vague, François Truffaut, Eric Rohmer und Claude Chabrol, die das "Werk" des vermeintlichen Handwerkers Hitchcock ("einer der größten Formenerfinder der gesamten Filmgeschichte") als solches erkannten und ihm so Anerkennung verschafften. Der klaren Handschrift eines echten auteur (Glossar: Zum Inhalt: Autorenfilm) galt ihre Bewunderung. Inzwischen ist Hitchcock längst Teil der Populärkultur: Die Buch- und Hörspielserie Die drei ??? nutzt sein Konterfei, bekannt aus seinen Zum Inhalt: Cameo-Auftritten in den eigenen Filmen, seit jeher als Werbemittel (gegen eine Lizenzgebühr). Der Jugend-Thriller "Disturbia" (D. J. Caruso, USA 2007) war eine Hommage an "Das Fenster zum Hof" , mehrere Folgen der "Simpsons" enthalten Anspielungen auf "Psycho" und weitere Filme. In einem tollkühnen Experiment inszenierte der US-Independent-Filmer Gus Van Sant Hitchcocks Zum Inhalt: Horror-Klassiker nahezu Einstellung für Einstellung nach, inklusive jenes Mords unter der Dusche ("Psycho" , USA 1998). 70 Schnitte in 45 Sekunden. Schnitte, auch das lehrte Hitchcock, sollten so wenig wie möglich gesetzt werden. Ausnahmen dienten seinem einzigen Ziel, "das Publikum zum Schreien zu bringen".