Hintergrund
Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino
Lawrence von Arabien (1963) und Easy Rider (1969)
Wer vor den 1950er-Jahren Kinobilder bestaunen wollte, ging ins Lichtspielhaus. Das änderte sich mit dem Aufkommen des Fernsehens. Schon Mitte des Jahrzehnts besaß die Hälfte aller US-amerikanischen Haushalte ein TV-Gerät. Auch in Deutschland und anderen Industrieländern avancierte der Fernseher allmählich zum Massenphänomen. 1969 verfolgten geschätzt 500 bis 600 Millionen Menschen weltweit die US-Mondlandung vor den heimischen oder in Schaufenstern aufgestellten "Flimmerkisten". Das Kino wankte vor dem Hintergrund des abspenstigen Publikums. Zwei so unterschiedliche Produktionen wie das epische Wüstenabenteuer
Lawrence von Arabien (1963) von David Lean und das hippieske
Roadmovie Easy Rider (1969) von und mit Dennis Hopper stehen exemplarisch für zwei Strategien, mit denen Filmschaffende der Herausforderung begegneten.
Mit Sandalen gegen die Kinokrise
Die Filmindustrie geriet nicht allein durch die Fernsehkonkurrenz unter Druck, sondern auch, weil die Studios am progressiven Zeitgeist der aufziehenden 1960er-Jahre vorbei produzierten: Einstige Attraktionen wie der Technicolor-Farbfilm waren zur Gewohnheit verblasst. Hollywood reagierte auf den drohenden Niedergang zuerst mit audiovisuell überwältigenden Musicals (
West Side Story, 1961) und Monumentalfilmen. "Sandalenfilme" wie
Ben Hur (1959) sollten die Schauwerte des Kinos betonen und das zunächst meist
schwarz-weiße TV-Erlebnis im
4:3-Format in den Schatten stellen.
Technische Innovationen wie die Mehrkanal-Tonspur, das Breitwandformat
Cinemascope und erste
3D-Versuche konnten das Publikum jedoch nicht nachhaltig binden – auch wenn bildgewaltige Leinwandepen wie die britische Großproduktion
Lawrence von Arabien künstlerische und kommerzielle Erfolge feierten. Letzterer spielte das Dreifache seines Budgets von rund 15 Millionen US-Dollar ein. Auch die Sowjetunion partizipierte mit Epen wie Sergei Bondartschuks 432-minütigem Historiendrama
Krieg und Frieden (1966) am kinematographischen Überbietungswettbewerb. Die Publikumsresonanz schwand trotzdem. Die jungen Babyboomer interessierten sich für kritische Gegenwartsbezüge, weniger für den Eskapismus der Nachkriegszeit. Der Ost-West-Konflikt, der Vietnamkrieg und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung hatten alte Schemata auf den Kopf gestellt.
Die nächste Generation: New Hollywood
Als Mittel gegen die Krise erwiesen sich Independent-Filme im Zeichen der Pop- und Gegenkultur. Die 1967 erfolgte Ablösung der im
"Hays Code" festgesetzten Zensur durch ein freiwilliges Bewertungssystem leistete dem wagemutigen Kino Vorschub. Arthur Penns Gewaltstudie
Bonnie und Clyde und Mike Nichols'
Coming-of-Age-Film Die Reifeprüfung (beide 1967) gelten als Initialzündungen des
New-Hollywood-Kinos, das eine formale und inhaltliche Modernisierung anstrebte. Das mit einem Budget von gerade einmal 360.000 Dollar gedrehte Roadmovie
Easy Rider von Dennis Hopper beinhaltet die Neuerungen in mustergültiger Form: Antihelden brettern auf ihren Harleys durch den mittleren Westen, schmuggeln, kiffen, pöbeln und werden von zeitgenössischer
Rockmusik untermalt, die nun gleichberechtigt neben symphonischen Filmscores stand.
Weitere technische Neuerungen wie die flexibleren 16-mm-Kameras mit synchroner Tonaufzeichnung erleichterten unabhängige Filmdrehs. Die neue Generation drehte vermehrt an
Locations "auf der Straße" und verknüpfte die stilistische Wucht mit kernigen Charakterporträts. An den neu eröffneten Filmschulen und in Kinoclubs entwickelten die "jungen Wilden" einen eigenen Zugriff auf das Kino. Obwohl progressiv ausgerichtet, war das Filmschaffen der Zeit jedoch männlich dominiert. Dennoch gab es neue Frauentypen, verkörpert von Schauspielerinnen Faye Dunaway oder Jane Fonda. Die im Zuge der Industrialisierung der Kinoproduktion zurückgedrängten Frauen kehrten zaghaft zurück. Vor allem Europäerinnen wie Agnès Varda (
Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7, 1961), Lina Wertmüller (
Mein Körper für ein Pokerspiel, 1967) oder Mai Zetterling (
Die Mädchen, 1968) filmten den Weg für nachfolgende Regisseurinnen frei.
Internationaler Austausch
Die Modernisierung des Kinos ging mit einer stetigen Wechselwirkung nationaler Filmografien einher. So war New Hollywood direkt von den "Neuen Wellen" des europäischen Autorenkinos beeinflusst, insbesondere von der französischen Nouvelle Vague um Jean Luc Godard (
Ausser Atem, 1960) und François Truffaut (
Jules und Jim, 1962), die seinerseits auf Hollywood-Auteure wie Howard Hawks (Rio Bravo, 1959) und den italienischen
Neorealismus rekurrierten und im
Cinema Novo eine brasilianische Variante fanden. Parallel verfolgten das französische
Cinéma Vérité und das in den USA entstandene Direct Cinema das Ziel, den Dokumentargehalt der Filmbilder durch einen Rückzug der Regie zu potenzieren, mit der Kamera als Zeugin oder "Fliege an der Wand". Zusätzlich ermöglichten Filmfestivals wie die 1951 lancierte Berlinale und neue Vertriebsstrukturen kleineren Produktionen eine internationale Auswertung. Davon profitierte das asiatische Kino, das ab Mitte der 1950er-Jahre weltweit Beachtung fand. Die ästhetische Raffinesse von Akira Kurosawa (
Rashomon, 1950) und anderen schärfte den Blick westlicher Cinephiler. Und
Mother India (1957) war der erste indische Film, der eine Oscar-Nominierung erhielt.
Deutsches Kino im Wandel
Auch die deutsche Kinokultur veränderte sich in den 1960ern. Die DDR erlebte nach dem Mauerbau eine kurze Phase der Liberalisierung, die sich in den DEFA-Produktionen des Jahrgangs 1965/66 deutlich äußerte. Die Filme wanderten allerdings nach einem politischem Kurswechsel nahezu vollständig "in den Keller". In der BRD erklärte das Oberhausener Manifest von 1962 "Papas Kino" der Wirtschaftswunderjahre für hinfällig und läutete eine Phase der Erneuerung ein. Finanziell erfolgreich waren die Werke des Neuen Deutschen Films – anders als die vielen Sex- und Aufklärungsfilme der Zeit – kaum, dafür aber international gerühmt. Einen wichtigen Anteil am Durchbruch der jungen Regiegeneration um Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff hatte der Ausbau der Filmförderung in der Bundesrepublik – speziell die Gründung des Kuratorium junger deutscher Film (1965). Das erwachte Bewusstsein für Kinokultur und Filmkunst spiegelte sich auch in einer verstärkten Filmbildungsarbeit wider, die in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt und zunehmend vernetzt wurde. Die Fördermittel ermöglichten zudem endlich anspruchsvollere Kinder- und Jugendfilme wie Hark Bohms
Tschetan, der Indianerjunge (1972). Bis dahin hatten Minderjährige als Zielgruppe für die bundesdeutsche Filmindustrie kaum eine Rolle gespielt. Anders dagegen in der staatlich organisierten Filmwirtschaft der DDR, die schon seit den 1950er-Jahren gezielt Kinderfilme produziert hatte. Der Kinobesuch von Kindern wurde dort auch durch stark subventionierte Ticketpreise gefördert: Die Eintrittskarte kostete für sie in der Regel 25 Pfennige – ein Viertel des Erwachsenentickets.
Während in der Bundesrepublik in den 1960ern erste Programmkinos und kommunale Kinos entstanden, sank zugleich die Zahl der Eintritte in den Mainstreamkinos rasant. So gingen etwa in München die jährlichen Kinobesuche pro Kopf zwischen 1956 und 1976 von im Schnitt 23,1 auf 3,3 zurück. Als Reaktion schlossen zahlreiche große Ein-Saal-Kinos oder wurden zu sogenannten "Schachtelkinos" mit vielen kleinen Sälen und winzigen Leinwänden umgebaut. Das "Kinosterben", das sich zeitgleich in fast allen Industrieländern vollzog, thematisierte der US-Film
Die letzte Vorstellung (1971) von Peter Bogdanovich. Zu den wenigen bundesdeutschen Produktionen der 1960er-Jahre, die internationalen Hits wie den frühen James-Bond-Filmen an der Kinokasse Paroli bieten konnten, zählten vor allem Karl-May-
Adaptionen wie
Der Schatz im Silbersee (1962), der allein im Inland geschätzte zehn Millionen Menschen in die Kinos lockte. Der Erfolg löste nicht nur in der Bundesrepublik eine Western-Welle aus: Die ostdeutsche DEFA reagierte mit eigenen "Indianerfilmen" (
Spur des Falken, 1968). Über Europa hinaus sorgten aber nicht zuletzt innovative Italo-Western wie Sergio Leones
Für eine Handvoll Dollar (1964) für Aufsehen – sie inspirierten wiederum die aufstrebenden jungen US-Filmemacher/-innen.
Die Geburt des Blockbusters
Letztlich waren es paradoxerweise auch die wenigen spektakulären Kassenerfolge New Hollywoods und anderer Neuerungswellen, die das Filmemachen von Neuem dem Diktat der Studio-Kalkulation unterwarfen: 1975 glückte Steven Spielberg mit Der weiße Hai ein Sommerhit, der bereits am Startwochenende sein Budget von sieben Millionen Dollar wieder einspielte. Im Geiste ein New-Hollywood-Film, begründete er zugleich das moderne Blockbuster-Kino. Bald darauf verschaffte die VHS-Kassette (Video Home System) dem Kino neuerliche Konkurrenz und ließ weitere cineastische Subkulturen entstehen.
Autor/in: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 31.05.2021
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