53. Internationale Filmfestspiele Berlin: Towards Tolerance
Der Alte Affe Angst
Ich habe keine Angst
Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse des 11. September 2001 und eines drohenden Irak-Krieges, der sich zum Flächenbrand ausweiten könnte, richtete Festivalleiter Dieter Kosslick in seinem zweiten Amtsjahr die Internationalen Filmfestspiele in Berlin politisch-thematisch aus: "Towards Tolerance", für mehr Toleranz und Verständnis, für eine bessere Verständigung gerade auch zwischen den Kulturen sollte Deutschlands A-Festival werben, das seine Geburtsstunde in Berlin vor mehr als einem halben Jahrhundert dem Kalten Krieg zu "verdanken" hat.
Seitdem sind einige Mauern gefallen, haben sich manche Fronten verlagert, sind neue Probleme und Konfliktherde entstanden. Viele der gezeigten Filme in allen Sektionen wissen darüber zu berichten, im privaten wie im eher gesellschaftskritischen Rahmen. Politisch engagiertes Kino war angesagt, statt Produktionen aus der Welt des Glitzer und Glamour, der reinen Unterhaltung. Schade lediglich an der dem Zeitgeist entsprechenden Auswahl, dass die Filme das Thema Toleranz allzu häufig mit Anstrengung, Mühsal und Tragik verbanden, statt mit Mut, Hoffnung oder einem befreienden Lachen. In emotionaler Hinsicht markieren zwei weniger beachtete Filme des Wettbewerbsprogramms das Spannungsgefälle:
Der alte Affe Angst von Oskar Roehler und
Io non ho paura/Ich habe keine Angst von Gabriele Salvatores. Roehler erzählt dramaturgisch dicht und packend die symbiotische Liebe zwischen zwei labilen Menschen, die aneinander Halt finden und sich dabei doch zerstören. Der Italiener Salvatores entspinnt in symbolkräftigen Bildern die Mut machende Geschichte eines in ärmlichen Verhältnissen lebenden Jungen, der ein gekidnapptes Kind in einem Erdloch entdeckt, erkennt, dass die erwachsenen Bezugspersonen um ihn herum alle in dieses Verbrechen verwickelt sind, und trotzdem bereit ist, den Jungen zu befreien. So privat und direkt wie bei Roehler möchte man die Angst freilich nicht gerne an sich heranlassen und bei ganz aus der Perspektive von Kindern erzählten Geschichten fällt die Hälfte aller Kritiker leider immer noch durch Inkompetenz auf.
Auf der Welt
Lichter
Ersatzteile
Flüchtlingsschicksale
Eines der großen Themen des Wettbewerbs war das Schicksal von Flüchtlingen beziehungsweise Fluchthilfe. Beklemmend authentisch, teilweise mit Restlichtverstärkung bei Nacht aufgenommen, schildert Michael Winterbottom in
In this world/Auf der Welt das Schicksal eines 16-jährigen Jungen und seines älteren Vetters aus Afghanistan, die versuchen, aus einem pakistanischen Flüchtlingslager über den Iran und die Türkei nach London zu gelangen. Der 16-Jährige wird das Ziel seiner Träume nach vielen Entbehrungen und Rückschlägen erreichen, alle anderen Mitreisenden sterben unterwegs. Winterbottom erzählt diese Tragödie in nüchternem, dokumentarisch wirkenden Erzählstil mit einer dicht an den Figuren bleibenden Handkamera, lässt seine Zuschauer die Flüchtlingssituation sinnlich nacherleben und hat für seine Leistung den Goldenen Bären verdient. – Kleinere Tragödien des Alltags an der deutsch-polnischen Grenze fokussiert Hans-Christian Schmid in
Lichter und auch sein Film besticht durch genaue Beobachtungsgabe und gute Schauspielerführung. Seine Protagonisten voller menschlicher Schwächen und Zweifel sind Zigarettenschmuggler, ein entlaufenes Mädchen aus dem Erziehungsheim, eine Dolmetscherin, die gegen den Widerstand ihres Freundes zur Fluchthelferin wird, und ein in Geldnot geratener polnischer Taxifahrer, der eine Familie über die streng bewachte Oder bringen soll. Hin- und hergerissen zwischen Eigennutz und echter Hilfsbereitschaft versuchen sie das Beste aus ihrer Situation zu machen, Enttäuschung garantiert inbegriffen. – Nicht ganz so überzeugend dagegen der einzige Wettbewerbsbeitrag aus den osteuropäischen Ländern, der slowenische Film
Rezervni deli/Ersatzteile von Damjan Kozole. Er konzentriert sich auf die Freundschaft zwischen zwei Fluchthelfern, der eine im Leben gestrandet, der andere naiv und unerfahren, die um des Profits willen Flüchtlinge aller Couleur über die slowenische Grenze nach Italien schmuggeln. Hier bekommen zwar die Schieber ein menschliches Antlitz, dabei geraten allerdings die Flüchtenden selbst zu reinen Statisten, zu Ersatzteilen eben.
Chicago
Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind
Unterhaltung um jeden Preis?
Wie sehr der Unterhaltungsanspruch der Medien auch mit den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft ist, zeigten zwei amerikanische Wettbewerbsbeiträge mit ganz unterschiedlichen Ansatzpunkten. Rob Marshalls Musical-Verfilmung
Chicago erzählt in kunstvoll ineinander verschachtelten Erzählebenen die Geschichte zweier Mörderinnen im Chicago Ende der 1920er Jahre, die mit tatkräftiger Unterstützung der Medien selbst die Gesetze des Showbusiness für ihren Freispruch und ihre Karriere als Entertainer zu nutzen wissen. – Was bei Marshall eher augenzwinkernde Komplizenschaft ist, entwickelt sich bei Schauspieler George Clooney in seiner ersten und sehenswerten Regiearbeit
Confessions of a Dangerous Mind zu einer differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Showbusiness und Politik anhand der Memoiren der amerikanischen TV-Legende Chuck Barris. Dieser führte ein heimliches Doppelleben als TV-Produzent so erfolgreicher und auch international kopierter Serien wie „The Dating Game“ (Herzblatt) oder „The Gong Show“ und war gleichzeitig Spion und Killer im Auftrag des CIA, in dessen Auftrag er angeblich über 30 Morde beging. Was Barris den Kick fürs Leben gab, ihn aber auch innerlich zerriss, stellt Clooney im Film als zwei Seiten einer gleichermaßen menschenverachtenden Haltung dar, in der für echte Gefühle oder gar Mitleid kein Platz ist.
Sein Bruder
The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit
Auf Leben und Tod
Auffallend viele Filme des Wettbewerbs beschäftigten sich mit dem Sterben und dem Tod. In
My life without me von Isabel Coixet erfährt eine 23-jährige Mutter, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hat, in
Son frère/Sein Bruder von Patrice Chéreau begleitet ein Homosexueller seinen an einer seltenen Blutkrankheit leidenden Bruder nicht ganz freiwillig durch die Maschinerie der Krankenhäuser. Herausragend
The Hours des britischen Filmemachers Stephen Daldry, der mit einem gut durchdachten Drehbuch, existenziellen Fragestellungen, einfühlsamen Bildern und einem großen Staraufgebot drei zu unterschiedlichen Zeiten spielende Geschichten parallel erzählt, in denen eine Frau sich binnen eines Tages für oder gegen das Leben entscheiden muss. Seine Ausgangslage nimmt der Film 1923, als die nervlich bereits zerrüttete Schriftstellerin Virginia Woolf ihren berühmten letzten Roman „Mrs. Dalloway“ schrieb, bevor sie Selbstmord beging. Im Los Angeles des Jahres 1952 nimmt eine verzweifelte Mutter die Lektüre des Romans zum Anlass, ihre Familie zu verlassen. Der von dieser Mutter enttäuschte Sohn wird später Dichter, erkrankt im New York der Gegenwart an Aids und möchte seinem Leben ein Ende setzen, was seine langjährige Freundin selbstaufopfernd zu verhindern sucht. Ein tiefgründiger Film, heftig mit Moll-Akkorden von Philip Glass unterlegt, der gleichwohl ein zündendes Plädoyer für das Leben und für die eigene Verantwortung ist.
Zerbrochene Flügel
Unter Wasser
Familiengeschichten aus Israel
Während die aktuelle Berichterstattung über Israel häufig ein Bild verbreitet, das zurzeit eher von Intoleranz und Unsensibilität geprägt scheint, vermittelten die israelischen Beiträge des Festivals ein wesentlich differenzierteres und positiveres Bild. Gesellschaftlicher Konfliktstoff, in beiden Fällen übertragen und gespiegelt auf schwierige Familienkonstellationen: Nach dem plötzlichen Tod des Vaters gerät das Leben einer Familie in Knafayim Shvurot/Zerbrochene Flügel von Nir Bergman aus den Fugen. Die Mutter fühlt sich hoffnungslos überlastet, die Tochter wird zum Mädchen für alles und artikuliert ihren Schmerz in selbst geschriebenen Songs, der ältere Sohn hat nur noch Null Bock auf Nichts und der Kleinste versucht durch immer höhere Sprünge auf Betonflächen vergeblich Aufmerksamkeit zu erregen. Erst als es dabei zu einem Unfall kommt, wachen die anderen Familienmitglieder auf und wagen gemeinsam einen Neuanfang. Dieser Panorama-Beitrag erhielt den Publikumspreis, vielleicht auch, weil es einer der wenigen Filme des Festivals war, in denen es trotz tragischer Momente auch etwas zu lachen gab. – In Abba Shahor Lavan/Unter Wasser von Eitan Londner aus dem Kinderfilmprogramm setzt sich ein junges, säkular erzogenes Mädchen in eigener Krisensituation mit ihrem Vater auseinander, der vor Jahren die Familie verlassen hatte, um ein ultraorthodoxes Leben zu führen und in diesem Sinne eine neue Familie zu gründen. Trotz harter Kritik an dieser fundamentalistischen Haltung zeigt der Film auch, dass eine Annäherung möglich ist, beide Seiten voneinander lernen können.
Wolfsburg
Herr Wichmann von der CDU
Hoffnungen für den deutschen Film
Nicht nur quantitativ, auch in punkto Qualität konnten sich alle drei deutschen Wettbewerbsbeiträge, neben den beiden oben genannten auch
Good bye, Lenin! (siehe aktuelle Kinofenster-Ausgabe 2-03), sehen lassen. Vergangen damit die Zeiten, in denen deutsche Filme eher zufällig in den Wettbewerb gerieten und meistens nicht einmal die besten. Auch andere Sektionen machten Mut zur Hoffnung und boten sehenswerte Kinokost. Hier nur eine kleine Auswahl:
Stefan Krohmer (Jg. 1971) blickt in seinem Film mit dem zunächst irritierenden Titel
Sie haben Knut zurück auf die vergessenen Ideale der frühen 1980er Jahre. Und obwohl er vom Alter her die oftmals pseudointellektuellen Auseinandersetzungen um Liebe und Politik allenfalls als Kind miterlebt haben kann, ist ihm die Stimmung jener Zeit atmosphärisch dicht gelungen. Beziehungsknatsch und Gruppenprozesse pur in einer verschneiten Tiroler Alpenhütte, in der sich junge Leute, Singles, Pärchen, Familien für einen Skiurlaub zusammengefunden haben. Nur Knut, der Initiator des Treffens, ist nicht gekommen und jeder in der Gruppe geht damit auf eigene Weise um. – Christian Petzold hatte sich schon mit seinen letzten Filmen durch präzise und lakonisch vermittelte Stimmungslagen und Gefühlswelten, mit der filmisch beeindruckenden Visualisierung innerer Konflikte einen Namen gemacht. In seinem neuen Film
Wolfsburg erzählt er die Geschichte eines Autoverkäufers, der aus Unachtsamkeit ein Kind überfährt und Unfallflucht begeht. Seine nagenden Schuldgefühle kitten vorübergehend eine bereits gescheiterte Beziehung, bis er der Mutter des verstorbenen Opfers begegnet und ein Verhältnis mit ihr beginnt. – Und Andreas Dresen, der im vergangenen Jahr seinen Film Halbe Treppe im Wettbewerb präsentierte, war diesmal mit einem Dokumentarfilm für die TV-Reihe „Denk ich an Deutschland“ vertreten.
Herr Wichmann von der CDU portraitiert einen jungen Direktkandidaten aus der Uckermark mitten im Wahlkampf, einer der wenigen, die sich Dresen zufolge noch persönlich engagieren. Das führt manchmal zu unfreiwillig komischen Situationen, ohne den Kandidaten mehr lächerlich zu machen, als seine Mitstreiter aus den anderen Lagern, reflektiert in erster Linie jedoch die Stimmungslage vieler Menschen in der Provinz und die Gräben, die sich zwischen ihnen und der Politik auftun.
Autor/in: Holger Twele, 20.11.2006
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.