Cannes 2005
Das Kind
"Ein guter Jahrgang", so lautete allgemein das Urteil über das diesjährige Filmfestival in Cannes. Zwei bemerkenswerte Themen-Komplexe dominierten den Wettbewerb und fanden sich in Ansätzen auch in den Nebensektionen: die Reflexion über Gewalt in der Gesellschaft und die Sehnsucht nach Familie, nach einem Platz der Geborgenheit – oft verbunden mit der Aufarbeitung von Vergangenheit. Da gab es Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmerten, Väter, die ihre Kinder suchten, und Kinder, die unter dem Verlust der Väter litten: verlorene Seelen in einer vaterlosen Gesellschaft. Ein Großteil der Beiträge konnte das Etikett "kaputte Familie" tragen. Auffallend in diesem Jahr war nicht nur die filmische Auseinandersetzung mit politisch-sozialen Rahmenbedingungen, sondern auch der Triumph der "Oldies". Die besten Filme stammten von Regisseuren, die nicht zum ersten Mal ihre Werke an der Croisette vorstellten und die teilweise schon um die 60 waren. Lebenserfahrung und handwerkliches Können: Bei dieser Kombination musste so manche/r Nachwuchsfilmer/in passen.
Don't Come Knocking
Vaterlose Gesellschaft
Die Jury unter der Leitung des bosnischen Regisseurs Emir Kusturica zeichnete das Sozialdrama
L'enfant/Das Kind der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit der "Goldenen Palme" aus.
L'enfant ist die traurige Geschichte von Bruno (wunderbar gespielt von Jérémie Reiner), der mit seiner Freundin auf der sozialen Leiter ganz unten angesiedelt ist. Als diese mit dem gemeinsamen Baby aus dem Krankenhaus kommt, bleibt er auf Distanz, verkauft das Neugeborene für 5.000 Euro an eine illegale Adoptionsagentur. Sehr präzise beschreiben die Gebrüder Dardenne, die nach 1999 für
Rosetta das zweite Mal den begehrten Preis in Empfang nehmen durften, die Rolle des unreifen jungen Mannes. Sie verurteilen ihn nicht, sondern betrachten ihn mit einem Rest Sympathie, gewähren ihm am Ende sogar einen kleinen Hoffnungsfunken. – In Jim Jarmuschs Tragikomödie
Broken Flowers erfährt ein alternder Don Juan durch einen anonymen Brief von seiner seit 19 Jahren bestehenden Vaterschaft und zugleich, dass der Spross auf dem Weg zu ihm sei. Auf Drängen seines Nachbarn, der sich als Sherlock Holmes geriert, macht er sich auf die Suche nach der potenziellen Mutter, besucht seine verflossenen Geliebten und erlebt einige Überraschungen bei den Damen. Am Ende des Road-Movies wissen weder der einsame Mann noch die Zuschauenden, ob der Sohn wirklich existiert. Aber die Konfrontation mit der Vergangenheit hat den melancholisch vor sich hinstarrenden Single etwas weiser gemacht. – Wim Wenders beschwört in
Don't Come Knocking mehr als nur den Mythos Amerika und die Unmöglichkeit, ein Stück Heimat zu finden. Er stellt einen abgehalfterten Cowboy-Darsteller in den Mittelpunkt, der sich – ähnlich wie der Protagonist bei Jarmusch – der Vergangenheit zuwendet, um die Gegenwart zu ertragen. Howard Spence erfährt durch seine Mutter, bei der er nach einem abgebrochenen Dreh Unterschlupf sucht, dass er Vater sein soll; passiert ist das dreißig Jahre zuvor bei Dreharbeiten in Montana. Er findet den an ein Gemälde von Edward Hopper erinnernden Ort und einen Sohn und eine Tochter von verschiedenen Frauen; nicht zu vergessen eine alte Liebe. Doch das verpasste Leben lässt sich nicht nachholen. Der Womanizer, der sich von einem One-Night-Stand zum anderen hangelt, spürt plötzlich die ganze Trostlosigkeit eines Lonesome Riders, den Ekel vor einer falschen Existenz, die so authentisch wie Fast Food ist. Die Realität macht ihn zum Verlierer, die erwachsenen Kinder wollen nichts mit dem plötzlich auftauchenden Vater zu tun haben, die einstige Geliebte weist ihn zurück.
Don't Come Knocking ist Western, Road-Movie und großes Gefühlskino. Wenders spielt mit Klischees und bricht sie, die starken Western-Helden haben ausgedient, durchsetzungsfähige Frauen treiben nun die Handlung voran.
Manderlay
Gewalt in der Vorstadt
Gewalt, ein Vater-Sohn-Konflikt und die Folgen düsterer Vergangenheit bilden die Ingredienzen für David Cronenbergs Drama
A History of Violence , eine filmische Abrechnung mit der Gewalt, die über eine Kleinstadt-Musterfamilie hereinbricht. Da entpuppt sich der fürsorgliche Familienvater als Ex-Gangster mit einigen Leichen im Keller. Nach und nach holt ihn sein altes Leben ein. Und wenn in der Schlusseinstellung die Familie bei Hackfleisch und Kartoffeln am Abendtisch sitzt, ist nichts mehr, wie es einmal wahr. Der Versuch, sich wieder in der heilen Welt einzurichten, ist zum Scheitern verurteilt. Der kompromisslose und doppelbödige Genre-Film zerlegt die Scheinheiligkeit der US-Gesellschaft bitterböse in ihre Bestandteile. – Der Däne Lars von Trier richtet ebenfalls sein Augenmerk auf die US-Gesellschaft.
Manderlay , der zweite Teil seiner Anti-Amerika-Trilogie, ist nach der Dramaturgie und der Theaterstruktur von
Dogville aufgebaut. Die Mafiatochter Grace landet in den 1930er-Jahren auf einer Südstaatenplantage und will die Farbigen von der Sklaverei befreien. Doch denen scheint die Unterdrückung zu gefallen; zumindest aber, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Noch sind sie nicht bereit für die Freiheit und die politisch optimistische Grace muss die Sinnlosigkeit ihrer "Bekehrungsversuche" einsehen. Genüsslich setzt sich von Trier hier über Political correctness hinweg.
Unheimliche Bedrohung
Als Palmen-Kandidat galt bis zuletzt Michael Hanekes Psycho-Drama
Caché . Die geordnete Welt eines Fernsehmoderators und seiner Familie gerät sukzessive durch Überwachungsvideos, anonyme Briefe und mysteriöse Anrufe aus den Fugen. Nach und nach verschiebt sich das Gleichgewicht, eskaliert die Bedrohung. Ein verschwiegener Vorfall aus der Kindheit des Mannes unterzieht das Vertrauensverhältnis zwischen den Eheleuten einer harten Bewährungsprobe, lässt Lügengebäude zusammenfallen und bewirkt eine Katharsis. Haneke zeigt keine Lösung auf, überlässt den Betrachtenden die Interpretation und hinterlässt eine nachhaltige Wirkung. – Enttäuschend dagegen war Marco Tullio Giordanas
Quando sei nato non puoi piu nasconderti . Ein Zwölfjähriger fällt bei einem Segeltörn über Bord und wird von einem Flüchtlingsschiff aufgefischt und gerettet. Wieder sicheren Boden unter den Füßen und den reichen Papa im Hintergrund, verliebt sich der Millionärssohn in ein Balkanmädchen und entdeckt sein Herz für die Entrechteten. Der Film entpuppt sich als peinliche Geschichte zwischen Edelkitsch und Gutmenschentum mit schlechten Schauspielern/innen, da hilft auch die gute Gesinnung nichts mehr. – Als ebenso abwegig erwiesen sich das hölzerne Antikriegs-Märchen
Kilomètre Zero des Irakers Hiner Saleem und
Free Zone , Amos Gitais wirres Konglomerat über den Nahost-Konflikt. Beide Regisseure haben ihr Sujet nicht in den Griff bekommen.
Schläfer
Der Tod im Krieg und der Tod im Frieden
An die Front des Ersten Weltkriegs führt
Joyeux Noël von Christian Carion. Nach einer wahren Begebenheit schildert der Franzose, wie feindliche schottische, französische und deutsche Soldaten 1914 gemeinsam Weihnachten feiern und sich gegen den Willen der Oberen verbrüdern. Die historisch verbürgte Story wurde in den verschiedenen Sprachen gedreht und will zeigen, dass Frieden im Krieg möglich ist, wenn auch nur für einen kurzen und sentimentalen Moment. – Interessant war François Ozons
Le temps qui reste in der Sektion "Un Certain Regard". In einer Art Kammerspiel verfolgen die Zuschauenden, wie ein hipper 30-jähriger Modefotograf auf die Nachricht reagiert, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat: eine emotionale Reise in die eigene Wahrheit und ein sehr persönliches und intimes Porträt über die Hilflosigkeit und Verzweiflung angesichts des nahen Todes. Nach
Unter dem Sand ist
Le temps qui reste der zweite Teil von Ozons geplanter Trilogie über den Umgang mit dem Tod.
Terrorangst und Denunziation
Zwei deutsche Beiträge feierten in der Sektion "Un Certain Regard" ihre Weltpremiere: Christoph Hochhäuslers
Falscher Bekenner handelt von einem 19-jährigen antriebslosen Realschulabsolventen, der sich unwillig Vorstellungsgesprächen unterzieht und seinem langweiligen Leben durch falsche Bekennerbriefe zu unaufgeklärten Straftaten einen Kick geben möchte. Das Aufspüren von Identität gestaltet sich relativ zäh, die Ansammlung kleinbürgerlicher Klischees vergrämt und das Ende bleibt unbefriedigend. – Mehr Überzeugungskraft beweist Benjamin Heisenbergs
Schläfer , eine "verzwickte Ménage à trois zwischen den Erzählsträngen Wissenschaft, Liebe und Überwachung" in von Terror-Angst, der Zunahme von Sicherheitsmaßnahmen und dem Abbau von Datenschutz geprägten Zeiten nach dem 11. September 2001. Die Freundschaft zwischen einem deutschen und einem algerischen Wissenschaftler zerbricht beim Suchen nach internationaler Anerkennung und beim Werben um eine Frau. Als der Deutsche in beiden Fällen den Kürzeren zieht, sinnt er auf Rache. Wie schon Elmar Fischer in seinem Film
Fremder Freund spielt auch Heisenberg mit persönlichen Verunsicherungen und Verdächtigungen, schildert Verrat und Denunziation in leisen Tönen.
Autor/in: Margret Köhler, 01.06.2005