Kategorie: Filmbesprechung
"Der Fremde"
L’étranger
Philosophie des Absurden: François Ozons Neuadaption des existenzialistischen Klassikers von Albert Camus
Unterrichtsfächer
Thema
Bildungsrelevant, weil "Der Fremde" eine werkgetreue und zugleich dem historischen Entstehungskontext Rechnung tragende Verfilmung des existentialistischen Klassikers ist.
Die Geschichte: Mörder aus Zufall
Algier, 1938: Der Büroangestellte Meursault erfährt per Telegramm vom Tod seiner Mutter in einem Pflegeheim. Bei ihrer Beerdigung zeigt er keine Emotionen. Gleichgültig erscheint er auch gegenüber allen anderen Ereignissen in seinem Leben. Er trifft seine ehemalige Kollegin Marie im Strandbad, beginnt eine Beziehung mit ihr und stimmt schließlich einer Heirat zu. Er unterstützt seinen Nachbarn Raymond, der von seiner Geliebten Djemila der Gewalt und der Zuhälterei bezichtigt wird. Weil er, wie er später sagt, von der Sonne geblendet wird, erschießt Meursault Djemilas Bruder Moussa, der Raymond verfolgt. Dem Gerichtsprozess stellt er sich mit einer verblüffenden Teilnahmslosigkeit. Meursault wird als radikal aufrichtiger Mensch gezeichnet, der eine von Kirche und Justiz behauptete Sinnhaftigkeit als verlogen empfindet. Auf seine Hinrichtung wartend, kommt er zur befreienden Einsicht in die "zärtliche Gleichgültigkeit der Welt".
Filmische Umsetzung: Ästhetik der Körper
Meursaults innere Distanz zur Welt wird im Film als äußeres Schweigen inszeniert. "Ich weiß nicht", ist vermutlich sein am häufigsten gesprochener Satz. Nur in zwei Zum Inhalt: Schlüsselszenen werden Originalpassagen aus Camus‘ Roman als Off-Kommentar (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) zitiert. Ansonsten wird der Einblick in die Gedankenwelt der Figur verwehrt. Die Fahrt zum Begräbnis der Mutter ist fast wie ein Zum Inhalt: Stummfilm inszeniert. Auch sonst sprechen im Film vor allem die Körper in ihrem materiellen Bezug zur Welt – das Meer, die Sonne, die Hitze, alles gedreht in ästhetisierendem Schwarz-Weiß (Glossar: Zum Inhalt: Farbgestaltung). Die existentialistische Vorstellung von Absurdität und Leere versucht die filmische Zum Inhalt: Inszenierung zudem durch minimalistische Zum Inhalt: Filmmusik und starke Lichtkontraste (Glossar: Zum Inhalt: Licht und Lichtgestaltung) zu übersetzen. Zum Inhalt: Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen trennen die Figuren im Bild voneinander und bringen somit as Gefühl des Unverständnisses zwischen Meursault, den weiteren Figuren sowie der Gesellschaft im Allgemeinen zum Ausdruck.
Thema: Literarischer Klassiker im kolonialen Kontext
Albert Camus‘ 1942 erschienener existentialistischer Klassiker gilt als einer der meistgelesenen französischsprachigen Romane der Welt. François Ozons Zum Inhalt: Adaption begegnet der literarischen Vorlage mit Respekt und bekennt sich zugleich zu einem kritischen Blick auf deren Epoche. Ozon verankert die Ereignisse sichtbar im historischen kolonialen Kontext, als Algerien noch Teil des französischen Staatsgebiets war, und macht den toten Winkel des Romans damit sichtbar. Archivbilder zu Beginn zeigen Algerien durch die folklorisierende Brille jener Zeit. Spätere Dialoge lassen den strukturellen Rassismus aufscheinen, der bis heute die französische Geschichte belastet. "Ich habe einen Araber getötet", lautet ein Satz zu Beginn von Roman und Film, den auch der bekannte The-Cure-Song Killing an Arab im Zum Inhalt: Abspann aufgreift. Anders als bei Camus hat "der Araber" bei Ozon in einem klaren Bezug auf Kamel Daouds Roman Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung (frz. Ausgabe: 2013) einen Namen und eine Identität. Die zentrale Frage der Romanvorlage nach dem Fremden bekommt somit eine zusätzliche politische Dimension.
Fragen für ein Filmgespräch
Der Fremde bezeichnet den Protagonisten des Films. Was kommt uns bei Meursault fremd oder befremdlich vor?
Wie trägt die filmische Inszenierung dazu bei, dass uns Meursault fremd bleibt?
Wie geht die Literaturverfilmung mit dem historischen Kontext des über 80 Jahre alten Romans um?