"Das Cabinet des Dr. Caligari" ist ein legendärer, vielleicht der berühmteste deutsche Stummfilm. Entstanden kurz nach dem Ersten Weltkrieg, erzählt er eine doppelbödige Geschichte über Mord und Wahnsinn. Seine außergewöhnliche Gestaltung in schrägen, expressionistischen Kulissen machte ihn zum Kunstwerk – und zur Sensation des Jahres 1920. Vor allem aber ist "Das Cabinet des Dr. Caligari" ein mitreißender Psycho-Thriller, der sein Publikum auch heute noch in seinen hypnotischen Bann zieht. Die von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung digital restaurierte Fassung dieses Films feiert während der 64. Internationalen Filmfestspiele Berlin ihre Weltpremiere.

Der Serienmörder von Holstenwall

Cesare öffnet seine Augen (orange viragiert). ©: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (Murnau-Stiftung), Digitale Bildrestaurierung: L`Immagine Ritrovata – Film Conservation & Restoration, Bologna

"Als der Somnambule seine Augen zum ersten Mal öffnete, schrie eine Frau im Publikum", erzählte Drehbuchautor Hans Janowitz von der Uraufführung. Das ist der Moment, in dem das Grauen beginnt: Der Jahrmarkt-Hypnotiseur Dr. Caligari erweckt für wenige Augenblicke den ewig schlafenden Cesare, der die Zukunft voraussagt. Doch der junge Alan stellt die falsche Frage: "Wie lange werde ich leben?" Cesare antwortet: "Bis zum Morgengrauen!" Und in der Nacht wird Alan das Opfer eines Serienmörders in der kleinen Stadt Holstenwall. Sein bester Freund Franzis sucht besessen nach dem Täter. Er verfolgt seine Spur bis in ein Irrenhaus am Rande der Stadt. Dort erfährt er die schreckliche Wahrheit über Dr. Caligari und seinen Somnambulen.

Wer ist hier wahnsinnig?

Foto: Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main

"Das Wort 'Ende' überrascht uns wie eine Ohrfeige", schrieb der französische Filmkritiker Louis Delluc 1922 über "Das Cabinet des Dr. Caligari" . Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung gebettet, in der am Ende alles auf den Kopf gestellt wird. Dabei ist die Binnengeschichte schon aufregend genug: Franzis ermittelt wie ein Detektiv der populären Kriminalliteratur. Er observiert den Verdächtigen, entdeckt Geheimnisse in uralten Büchern. Aber die Geschehnisse, denen er auf den Grund kommen will, treffen ihn tief in die eigene Seele: Der beste Freund ist ermordet worden. Die geliebte Jane wird von Cesare angegriffen und über die Dächer Holstenwalls entführt. Danach ist sie traumatisiert, wirkt nun selbst wie eine Somnambule. Am Ende bleibt der Zuschauende verunsichert zurück: Hat der Detektiv wirklich die Wahrheit gefunden oder ist er dem Wahnsinn verfallen?

Berühmter expressionistischer Film

Foto: Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main

Der Film präsentiert seine Geschichte in einer unwirklichen, expressionistisch verzerrten Welt, geschaffen durch drei Kulissenmaler der Decla-Film-Gesellschaft: Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig. Die expressionistische Gestaltung ist es, die den Film berühmt gemacht hat. Später sind viele Legenden darüber entstanden. So erzählte der Produzent Erich Pommer, er habe sich für gemalte Kulissen entschieden, um Stromkosten für die Zum Inhalt: Beleuchtung zu sparen: "Malen wir die Lichter und Schatten doch einfach auf die Kulissen!" Tatsächlich wurde der Film wie jeder andere deutsche Film zu der Zeit beleuchtet: Aufgenommen in einem Glashaus-Atelier mit Sonnenlicht von oben und zusätzlichen Scheinwerfern von vorne, links und rechts. Beleuchtung und Kameraführung waren konventionell, allein die Gestaltung der Kulissen war ungewöhnlich. Hermann Warm sagte später, die Anregung dafür lieferte allein das außergewöhnliche Drehbuch.

Vom Drehbuch zum Film

Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden (Murnau-Stiftung), digitale Bildrestaurierung: L`Immagine Ritrovata – Film Conservation & Restoration, Bologna

Das "Caligari" -Drehbuch war das Erstlingswerk zweier junger Männer, die nach dem Krieg in Berlin Freunde wurden und unbedingt ins Filmgeschäft einsteigen wollten: Theater-Dramaturg Carl Mayer und Schriftsteller Hans Janowitz. Die beiden warfen einander verschiedene Ideen zu. Janowitz erzählte von einem Mädchenmord am Hamburger Holstenwall, Mayer von einem Militärpsychiater, der ihn drangsaliert hatte. Daraus machten sie einen Krimi um einen mörderischen Schausteller in der fiktiven Stadt Holstenwall. Der Regisseur Robert Wiene und sein Team bearbeiteten die Handlung, bis daraus der Film wurde, den wir kennen. Dann gaben die Kulissenmaler dem Film seinen unverwechselbaren Look, und schließlich gestaltete ein großartiges Ensemble die Figuren: "Wenn Conrad Veidts Cesare an einer Mauer entlangstreifte, so war es nicht anders, als habe die Mauer ihn ausgedünstet", schrieb 1947 der Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer. "Das Cabinet des Dr. Caligari" ist ein Werk vieler Schöpfer.

Kassenschlager, Kunstwerk, Psycho-Thriller

"Das Cabinet des Dr. Caligari" wurde der Kinoerfolg des Jahres 1920. Als Sensation galt, dass nun die Kunst Einzug ins neue Medium Film gehalten hatte. Danach wurde der deutsche Film der Weimarer Zeit weltberühmt. Es folgten F. W. Murnaus Zum Filmarchiv: "Nosferatu" (1922), Fritz Langs Zum Filmarchiv: "Metropolis" (1927) und viele andere. Auch viele Jahrzehnte später ist der Einfluss dieses Werks in der Filmgeschichte noch zu spüren: Er ist der Archetyp des Psycho-Thrillers, der tief in die Abgründe der Seele blickt. So ist ein Film wie Martin Scorseses "Shutter Island" (USA 2010) eigentlich eine Variante von "Das Cabinet des Dr. Caligari" .

Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.

Unterrichtsmaterial

Mehr zum Thema