Hoch auf den Klippen mit Blick auf die ungestüme Barentssee steht das Holzhaus von Kolja. Der Automechaniker lebt und arbeitet dort mit seiner Frau Lilya und seinem Sohn aus erster Ehe. Ein bescheidenes Leben, zumal seine treusten Kunden die Polizisten sind, die ihn immer wieder um "einen Gefallen" bitten. Und nun soll er all das verlieren, denn der Bürgermeister des Ortes beansprucht das schmucke Grundstück für sich. Nachdem Koljas Einsprüche vom Gericht abgeschmettert wurden, bekommt er Hilfe von seinem Armeefreund Dmitri, einem erfolgreichen Anwalt aus Moskau. Er versucht, die drohende Enteignung abzuwenden oder zumindest eine angemessene Entschädigung zu erwirken und hat belastendes Material zur kriminellen Vergangenheit des Lokalpolitikers zusammengetragen. Doch dieser lässt sich nicht erpressen.
Andrey Zvyagintsev liefert mit
Leviathan ein kompromissloses Gesellschafts- und Sittenbild des modernen Russlands, dem es nicht an Humor mangelt. Zugleich ist sein Film als kafkaesk anmutende Parabel auf den vergeblichen Widerstand des Einzelnen angesichts eines allmächtigen Staatsapparats sowie als Interpretation der Hiob-Geschichte lesbar. Die
ruhige Kamera konzentriert sich in tableauartigen Bildern auf die erstarrt wirkenden Figuren, deren Gesichter im
Halbdunkel oft nicht lesbar sind und die in Innenräumen mitunter gefangen erscheinen. Im Kontrast dazu stehen die
weiten Aufnahmen der schönen, aber unwirtlichen
Landschaft. Der sparsame Einsatz von
Musik betont die auswegslose Lage des Protagonisten. Immer wieder findet der Regisseur stimmige Sinnbilder und nimmt (nicht nur) mit der eindrücklichen Aufnahme eines gestrandeten Walskeletts direkten Bezug zum Filmtitel.
Leviathan erinnert in seiner klaren Bildsprache und Erzählweise an den italienischen Neorealismus, in der Figurenzeichnung an die Filme Andrej Tarkowskijs.
Leviathan, Trailer (© Wild Bunch Germany)
Wenngleich der Regisseur angibt, der Kampf eines US-amerikanischen Werkstattbetreibers habe ihn zum
Drehbuch inspiriert, gibt es doch deutliche Bezüge zum Russland unter Putin, etwa ein im Hintergrund laufender TV-Bericht über
Pussy Riot. Entsprechend sollten Kritikpunkte herausgearbeitet werden, wobei es sich auch lohnt, die internationale und russische Rezeption des Films zu recherchieren und sich mit der derzeitigen Kulturpolitik des Landes zu beschäftigen. Zudem kann diskutiert werden, welches Bild Zvyagintsev von Staat und Kirche und von der Position des Individuums entwirft. Hierbei bietet sich im Politik- und/oder Philosophieunterricht eine Beschäftigung mit der staatstheoretischen Schrift gleichen Namens von Thomas Hobbes an. Versteht man Kolja als einen modernen Hiob, geht es im Fach Religion um Parallelen zur biblischen Geschichte und die Frage, die Kolja auch im Film einem Geistlichen stellt: "Wäre mein Leben anders, wenn ich mich täglich bekreuzigt hätte?"
Autor/in: Kirsten Taylor, 11.03.2015
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