Amin will über die Vergangenheit sprechen, doch es fällt ihm schwer. Von oben sieht man ihn auf einer Couch liegend, deren Muster an einen persischen Teppich erinnert. In Kabul ist er aufgewachsen, mit seiner Mutter und drei Geschwistern, nachdem der Vater eines Tages verhaftet wurde. Immer wieder unterbricht er, sucht Abstand zu seiner eigenen Vergangenheit und zu den Umständen seiner Flucht, die ihn Mitte der 1990er-Jahre nach Dänemark führte. Mit dem Mann, dem er sich hier erstmals anvertraut, redet er normalerweise über andere Dinge. Jonas ist ein Freund, kein Psychologe, auch wenn die Situation sich anfühlt wie eine Therapiesitzung. Er ist außerdem der Regisseur des animierten Films, der hier Amins Erinnerungen festhält. Sie kennen sich seit der Schulzeit.

Flee, Szene mit engl. Untertiteln (© Final Cut for Real)

Amin wächst auf in einem vom Krieg erschütterten Afghanistan. Die heftigen Kämpfe außerhalb Kabuls sind ihm als Kind kaum bewusst, doch seit dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Jahr 1979 leben die Menschen in der afghanischen Hauptstadt in Angst. Noch herrscht die kommunistische Partei unter Präsident Mohammed Nadschibullah, dessen Militär inzwischen die Häuser nach jungen Rekruten absucht. Amins älterer Bruder Saif will nicht kämpfen, schon gar nicht für das brutale Regime, das ihm den Vater genommen hat. Doch alles könnte noch schlimmer werden, wenn die andere Seite gewinnt, die islamistischen Mudschahedin. Kurz vor dem Rückzug der sowjetischen Truppen gelingt der Familie die Flucht mit dem Flugzeug nach Moskau. Es ist erst der Beginn eines langen Leidenswegs, der die Familie auseinandertreiben wird und den heute 36-jährigen Amin mit einem schmerzvollen Geheimnis zurücklässt.

Ein Hybrid aus Dokumentar- und Animationsfilm

Als Mischung aus Zum Inhalt: Dokumentarfilm und Zum Inhalt: Animationsfilm hat Jonas Poher Rasmussens "Flee" auf Festivals für Aufsehen gesorgt, gekrönt von einer Oscar®-Nominierung. Das ungewöhnliche Format dient nicht nur dem Schutz beteiligter Personen. Amins Flucht mit gefälschten Papieren führt in einen traumatischen Bereich persönlicher Erinnerung, dessen Darstellung sich rein dokumentarischen oder fiktionalen Methoden gleichermaßen verwehrt. Umso bemerkenswerter gelingt das Experiment. Mit der hybriden Form hat der dänisch-französische Regisseur, der als animierter Charakter selbst auftritt, einen Weg gefunden, komplexe Denk- und Erinnerungsprozesse plastisch nachzubilden.

Flee, Szene mit engl. Untertiteln (© Final Cut for Real)

In die animierten Zum Inhalt: Sequenzen montiert (Glossar: Zum Inhalt: Montage) Rasmussen Nachrichtenbilder, die das Filmgeschehen zusätzlich mit der historischen Wirklichkeit verknüpfen. Obwohl sparsam eingesetzt, entfalten sie eine eindringliche Wirkung etwa, wenn die Flucht vom Kabuler Flughafen mit dokumentarischen Aufnahmen dortiger Kämpfe korrespondiert. Noch während das Flugzeug abhebt, versinkt das Rollfeld im Rauch der Granaten. Die Glaubwürdigkeit solcher Zum Inhalt: Szenen ist dabei nicht entscheidend, spielt der Film doch über weite Strecken in Amins Kopf – und darin beanspruchen Realität, Kindheitserinnerungen, Alpträume und düstere Vorahnungen natürlicherweise denselben Rang. Diese bewusste Erinnerungsunschärfe kommt auch in der Zum Inhalt: Farbgestaltung zum Ausdruck. Sind glückliche Momente der Kindheit in Kabul in leuchtend hellen Tönen gezeichnet, verschwimmen die Farben an anderer Stelle zu bedrückendem Grau. Dies gilt etwa für die zermürbenden Jahre des Wartens in der postsowjetischen Tristesse des Moskauer Exils. Mit längst abgelaufenen Visa, unter den scharfen Augen eines korrupten Sicherheitsapparats, versucht die Familie hier das Geld für die Fortsetzung ihrer Flucht nach Schweden zusammenzubekommen. Wie schon sein ganzes Leben lang sieht sich Amin bedroht von Soldaten und Polizisten in Uniformen, deren Farben längst keine Rolle mehr spielen. In den fürchterlichsten Momenten der Flucht wird die Animation zusehends abstrakt. Nur noch mit Strichen angedeutete Gestalten huschen durchs Bild, scheinbar ohne Weg und Ziel.

Die Fluchterfahrung ist ständig gegenwärtig

In der Gegenwart führt Amin, als erfolgreicher Akademiker, ein gutes Leben. Er und sein dänischer Partner wollen bald heiraten, in sommerlichen Szenen suchen sie schon ein Haus mit Garten. Aber insgeheim fürchtet Amin, sich nie wieder zuhause fühlen zu können. Seine Homosexualität muss er in Dänemark nicht mehr verstecken, doch sie ist nur ein Teil seiner Identität. Er will die Vergangenheit loslassen können: den tragisch missglückten Fluchtversuch über die Ostsee, das Gefühl des Ausgeliefertseins an kriminelle Schleuser und korrupte Sicherheitsbeamte, und auch jene falsche Identität, die ihm einst das Überleben sicherte und zugleich eine Lüge aufbürdete, die sein ganzes Leben belastet.

Flee, Szene mit. engl. Untertiteln (© Final Cut for Real)

Nicht zuletzt aufgrund dieser therapeutischen Motivation wird "Flee" , entstanden aus der persönlichen Freundschaft des Filmemachers mit seinem Protagonisten, oft mit Ari Folmans Zum Filmarchiv: "Waltz with Bashir" (IL 2008) verglichen. Rasmussens Animationsstil ist einfacher als der des israelischen Pendants, ganz auf das Wesentliche reduziert. Was sich daraus ergibt, ist eine ungeahnte Form der Identifikation. Amins spezifisches Schicksal wird emotional erfahrbar, wirkt auf eine gewisse Weise allgemeingültig, weist über sich hinaus. Sein Erinnerungsbild der Vergangenheit, von der Zeit geformt, bezeugt die ständige Gegenwart einer Fluchterfahrung, die mit dem Ankommen längst nicht abgeschlossen ist. Dokumentarische Szenen aus einem schäbigen Asylgefängnis in Estland zeigen gerade noch aus Seenot gerettete Geflüchtete und erinnern an die Nachrichtenbilder unserer Tage. Amins Erzählung einer geglückten Flucht erinnert an die Leiden, die mit dem Verlust der Heimat verbunden sind – und an die, die dabei zugrunde gehen.

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