Nermin Abadan-Unat, 1921 in Wien geboren, war eine Jugendliche, als ihre Mutter entschied, dass sie im Büro arbeiten solle. Die Witwe hatte das gesamte Vermögen verspielt und war nun mittellos. Doch Nermin hatte andere Pläne: Die 15-Jährige zog allein nach Istanbul, weil sie dort kostenlos zur Schule gehen konnte und legte damit den Grundstein für ihre Karriere als Juristin und Soziologin. Sie ist eine der fünf Frauen, die im Mittelpunkt von Uli Gaulkes
Dokumentarfilm Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte stehen. Sie lehren Yoga, schreiben Bücher oder Gedichte, waren im diplomatischen Dienst oder an der Universität tätig. Fünf Biografien, die in jeweils einhundert Lebensjahren geprägt wurden von historischen Momenten und dem technischen und sozialen Wandel. In die Lebenszeit der Frauen fielen Krisen, Kriege und Revolutionen, die sie aus nächster Nähe beobachteten und von denen sie nun aus spezifisch weiblicher Perspektive berichten. Jede musste sich ihre Karriere und ihren Platz hart erkämpfen, gegen den gesellschaftlichen Druck, gegen Konventionen und Normen. Ihre Geschichten sind Emanzipationsgeschichten.
Regisseur Uli Gaulke begegnet seinen hochbetagten Protagonistinnen mit großem Respekt. Ihr Alltag wird in zurückgenommenen Bildern eingefangen und ihr Alter dabei nicht ausgestellt. In ruhigen Interviewsequenzen (Glossar:
Talking Heads) erzählen sie aus ihrem Leben, von der Kindheit, von ihren Beziehungen, von beruflichen und persönlichen Erlebnissen und immer wieder von ihren Erfahrungen als Frauen. Neben privaten Bildern und früheren Aufzeichnungen illustrieren
Montagesequenzen aus dokumentarischem Archivmaterial und Nachrichtenbeiträgen (Glossar:
Found Footage) das jeweilige Zeitgeschehen. Musikalisch unterlegt ist der Film mit sanfter Klaviermusik (Glossar:
Filmmusik), die weder die Stimmung besonders färbt noch von den Erzählungen als Untermalung benötigt wird, die aber, wie zum Ende gezeigt wird, von einer 108-jährigen Pianistin eingespielt wurde.
Im Vordergrund steht die Beschäftigung mit den porträtierten Frauen, ihrem Alter und der Bedeutung von Zeitzeug/-innen. Was bedeutet es, hundert Jahre alt zu sein? Die Frage nach dem Voranschreiten der Zeit kann aus philosophischer, persönlicher und zeithistorischer Perspektive betrachtet werden. Was haben die Frauen erlebt, wie hat sich die Welt in den letzten hundert Jahren geändert? Wie in den letzten zehn Jahren? Ein weiterer Aspekt ist die weibliche Erfahrung, die hier vielstimmig vermittelt wird und verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten etwa in den sozialwissenschaftlichen Fächern oder im Geschichtsunterricht bietet: von einer Diskussion über Gleichberechtigung und Diskriminierung bis zu einer vertiefenden Geschichte des Feminismus. Auch die eigene weibliche Familiengeschichte kann in Rahmen von Projektarbeiten recherchiert und präsentiert werden. Ausgehend vom Filmtitel "Frauen erzählen Geschichte" lässt sich diskutieren, aus welcher Perspektive die (westliche) Geschichte bislang geschrieben wurde und wie sich die fehlende Präsenz von Frauen in Geschichtsbüchern erklären lässt.
Arbeitsblatt zu Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte
Fächer: Deutsch, Sozialkunde, Ethik, Philosophie, Geschichte, Kunst, ab 14 Jahre, ab 9. Klasse
Vor der Filmsichtung:
a) Seht euch das Filmplakat an und stellt Vermutungen über das Thema des Films und das Filmgenre an.
b) Welche Frauen kennt ihr, die Geschichte geschrieben haben? Zum Beispiel im Sport, in der Kunst, in der Musik, beim Film, in der Raumfahrt, in der Medizin, in der Politik, im politischen Widerstand, in der Wissenschaft?
c) Was wisst ihr über das Genre Dokumentarfilm? Informiert euch zu zweit darüber, welche filmgestalterischen Mittel dort eingesetzt werden. Tauscht euch danach im Plenum aus. Einträge auf www.kinofenster.de und medienradar können euch bei eurer Recherche helfen:
kinofenster.de
medienradar.de
Während der Filmsichtung:
d) Teilt euch in Gruppen auf und achtet darauf, was ihr über die Lebensgeschichte der Frau eurer Wahl erfahrt.
Auf inhaltlicher Ebene:
Gruppe 1: V. Nanammal
Gruppe 2: Ilse Helbich
Gruppe 3: Nermin Abadan-Unat
Gruppe 4: Tamar Eshel
Gruppe 5: Haydée Arteage Rojas
Auf filmästhetischer Ebene:
Alle: Achtet darauf, mit welchen filmästhetischen Mitteln die Lebensgeschichten der Frauen erzählt werden.
Alle: Notiert euch, falls ihr etwas nicht versteht (etwa wenn ihr einen Begriff nicht kennt, der im Film vorkommt).
Hinweis: Macht euch unmittelbar nach der Filmsichtung stichpunktartig Notizen.
Nach der Filmsichtung:
e) Tauscht euch über euer Filmerlebnis aus. Gibt es etwas, das euch besonders beeindruckt, gefallen oder gar nicht gefallen hat? Gibt es offene Fragen? Tauscht euch im Plenum aus.
f) Tauscht euch wechselseitig in Expertengruppen (Teilnehmende aus jeweils
Gruppe 1, 2, 3, 4, und
5) über eure Ergebnisse aus Aufgabe d) (die inhaltliche Ebene betreffend) aus und vergleicht die Lebensgeschichten der fünf porträtierten Frauen: Welche Ähnlichkeiten oder Unterschiede weisen ihre Lebensgeschichten auf?
g) Tauscht euch in den gleichen Gruppen über die filmästhetische Ebene des Films aus: Mit welchen filmästhetischen Mitteln wurden die Lebensgeschichten der fünf Frauen jeweils erzählt? Vergleicht anschließend eure Ergebnisse im Plenum.
h) Arbeitet allein oder zu zweit. Geht auf den Instagram-Kanal
FrauenGeschichte oder auf folgende Website
Berühmte Frauen. Seht euch um und wählt schließlich eine Frau aus, deren Wirken euch besonders beeindruckt hat. Überprüft, ob die Frauen, die ihr in Aufgabe b) genannt habt, dort eine Rolle spielen.
i) Recherchiert nun über die Lebensgeschichte der Frau, die ihr ausgewählt habt und erstellt ein Porträt. Die Form des Porträts bleibt euch überlassen. Es kann ein Erklärvideo, ein Comic, eine Collage, ein Steckbrief, ein Portfolio, ein Bild, das mit Informationen verknüpft wird oder eine Ode sein. Seid kreativ und achtet darauf, dass man durch das Betrachten eures Porträts die von euch ausgewählte Person gut kennenlernt.
j) Stellt eure Ergebnisse im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel „Frauen schreiben Geschichte“ im Schulhaus aus. Diskutiert im Plenum und mit den Besucher/-innen eurer Ausstellung, warum die porträtierten Frauen dieses Rampenlicht verdient haben.
Autor/in: Lili Hartwig (Filmbesprechung), Lena Gutfreund (Arbeitsblatt), 06.03.2024
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.