Marie 1 (brünett) und Marie 2 (blond), beide Anfang 20, langweilen sich. Sie finden Gesellschaft und Welt so verkommen, dass sie für sich nur einen Weg sehen: Vergessen wir Moral und Mitgefühl und setzen der allgemeinen Verdorbenheit die Krone auf! In Folge verwerfen die jungen Frauen lustvoll alle Benimmregeln und gesellschaftlichen Normen. Wie Max und Moritz loten sie die Grenzen des Machbaren aus; jeder Streich verlangt nach perfider Steigerung. Sie verführen und nutzen ältere Männer aus, bestehlen eine Toilettenfrau, mischen volltrunken eine Kabarett-Vorstellung auf. Ihre hemmungslose Revolte gipfelt in der Verwüstung eines gigantischen Festbanketts. Als sie schließlich ausgelassen in einem Kronleuchter über dem angerichteten Chaos schaukeln, nehmen sie giggelnd ihr eigenes Ende in Kauf. Neben ihren Eskapaden stellen sich die Maries immer wieder philosophische Fragen – eine weitere Facette der schwarzhumorigen Komödie.
Tausendschönchen feiert die Rebellion zweier selbstbewusster Frauen als wilde Fantasie mit affektiver Erzählweise und originellen formalen Experimenten. Anfängliche Kriegsbilder zeigen unbarmherzige Zerstörungswut; sie wechseln sich ab mit
Großaufnahmen einer Maschine. Zahlreiche
Überblendungen und Überbelichtungen, mitunter schnelle
Schnitte und eine kurze
Trickfilmszene, in der sich die Freundinnen mit einer Schere "zerstückeln", zelebrieren das Filmemachen als lustvollen anarchischen Akt.
Schwarz-Weiß-Sequenzen und wechselnde Farbfilter, etwa bei einer simulierten Zugfahrt, sorgen für psychedelisch anmutende Eruptionen. Kichernd bewegen sich Marie 1 und 2 wie
Slapstick-Figuren durch ein surreal wirkendes Prager Ambiente. Die
Filmmusik befeuert ihre Aktionen: Mal klingt sie wie Zirkusmusik, mal geben verfremdete Geräusche ironische Kommentare zum Bild. So intonieren quietschende Scharniere zu Beginn die Bewegungen der jungen Frauen und verleihen ihnen etwas Marionettenhaftes. Ohne zwingende Analogie wirken die
Szenen oft wie assoziative Collagen. Aus dem
Off konstatiert am Ende ein
Kommentar die Entwicklung der Geschichte.
Tausendschönchen ist der zweite Spielfilm von Věra Chytilová (1929-2014). Er bescherte ihr nicht nur internationale Aufmerksamkeit, sondern wurde zum Schlüsselwerk der "Tschechoslowakischen Neuen Welle" (Nová Vlna). Diese äußert kreative Phase begann Anfang der 1960er-Jahre und fand mit der Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch den Einmarsch sowjetischer Truppen 1968 ihren Endpunkt. Neben der filmhistorischen Einordnung ist für den Kunstunterricht das Entdecken dadaistischer sowie weiterer künstlerischer Referenzen interessant. Die Frage, wie die Regisseurin in
Tausendschönchen mit erzählenden und filmkünstlerischen Elementen spielt, kann zudem zu eigenen filmischen Experimenten im Unterricht animieren. Im
Abspann widmet Chytilová ihren Film all jenen, "die sich nur über zertrampelten Salat aufregen" – eine Anspielung auf die Zensur, die den Film rasch ereilte. So lief er in der ČSSR ab Mai 1967 nur noch in kleinen Kinos, bis er nach dem gewaltsamen Ende des politischen Reformprogramms verboten wurde. Der respektlose Umgang mit Nahrungsmitteln im Film brachte den Ausschlag. Exzess und Zerstörung waren nach sozialistischer Staatideologie Ausdruck der Bourgeoisie.
Tausendschönchen erlaubt jedoch mehrere Lesarten, die sich im Ethik- und Gesellschaftsunterricht erörtern lassen: Ist Gier oder Revolte die Antriebsfeder für Marie 1 und 2? Sind sie radikale Feministinnen, die gegen überkommene Moralvorstellungen kämpfen, oder kompromisslose Hedonistinnen, die auf Kosten ihrer Mitmenschen leben? Interessant für die Selbstbefragung der Schüler/-innen ist, wie sie den Film und das Verhalten der Protagonistinnen wahrnehmen. Welche Ideen und Fragen entdecken sie, die auch heute noch aktuell sind?
Arbeitsblatt zu Tausendschönchen
Fächer: Kunst, Geschichte, Sozialkunde, Ethik, Philosophie, ab Oberstufe, ab 16 Jahren
Vor der Filmsichtung:
a) Führen Sie folgendes Gedankenexperiment durch: Denken Sie an das letzte Mal zurück, als Sie sich gelangweilt haben. Steigern Sie dieses Gefühl der Langeweile gedanklich und überlegen Sie, wie Sie darauf reagieren wollen. Halten Sie Ihre Gedanken fest.
b) Gehen Sie nun zu zweit zusammen und lesen Sie sich ihre Beschreibungen vor. Überlegen Sie sich, wie Sie die Beschreibung Ihrer Partnerin/Ihres Partners filmisch umsetzen würden. Sie können auch gerne eine Skizze anfertigen. Ihrer Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
c) Welche Konventionen des klassischen Erzählkinos auf narrativer und formaler Ebene sind Ihnen bekannt? Tragen Sie an der Tafel/am Smartboard ihr Wissen zusammen. Nehmen Sie dabei insbesondere Bezug auf folgende Punkte:
•
Farbgestaltung
•
Filmmusik
•
Lichtgestaltung
•
Blende
•
Montage
•
Continuity System
Während der Filmsichtung:
d) Achten Sie während der Filmsichtung arbeitsteilig auf Folgendes:
Gruppe A: Gegen welche gesellschaftlichen Konventionen verstoßen Marie 1 (brünett) und Marie 2 (blond) im Verlauf der Filmhandlung?
Gruppe B: Welche Konventionen des klassischen Erzählkinos werden auf formaler Ebene gebrochen?
Machen Sie sich während und direkt nach der Filmsichtung stichpunktartige Notizen.
Nach der Filmsichtung:
e) Gibt es etwas, das Ihnen besonders gefallen/überhaupt nicht gefallen hat? Begründen Sie Ihre Antwort und tauschen Sie sich im Plenum aus. Stellen Sie anschließend Ihre Ergebnisse aus Arbeitsschritt d) vor.
f) Vergleichen Sie Ihre Reaktionen auf extreme Langeweile und Ihre Ideen zur filmischen Umsetzung (Arbeitsschritte a) und b)) mit den Reaktionen von Marie 1 und 2 und der eigentlichen
Mise-en-scène. Gibt es Ähnlichkeiten und/oder Unterschiede? Woran könnte das jeweils liegen? Und: Wie bewerten Sie das Verhalten der beiden Protagonistinnen?
g) Der Film
Tausendschönchen entstand 1966 und hatte nur eine kurze Aufführungszeit. 1967 wurde der Film verboten und der Regisseurin Věra Chytilová wurde bis 1975 Arbeitsverbot erteilt. Informieren Sie sich über das politische Klima, in dem der Film entstand und über die "Tschechoslowakische Neue Welle" (Nová Vlna). Arbeiten Sie zu zweit und machen Sie sich Notizen. Folgende Websites können Sie für Ihre Recherche verwenden:
•
planet-schule.de: Prager Frühling
•
bpb.de: Tschechische Untergrundkultur
•
bpb.de: Das Reformprogramm des Prager Frühlings
•
epd-film.de: Nova Vlna – Avantgarde und Alltag
•
bfi.org: Vera Chytilova – Beginners
•
kultur-online.net: Experimentierfreudig und bissig – Die tschechoslowakische neue Welle der 1960er-Jahre
•
filmlexikon.uni-kiel.de: Tschechoslowakische Neue Welle
h) Hat sich Ihr Rezeptionseindruck des Films mit dem Wissen über seinen historischen Entstehungskontext verändert und wenn ja, inwiefern? Diskutieren Sie im Plenum und nehmen Sie dabei insbesondere auch Bezug auf Ihre Ergebnisse aus Aufgabe d) und g).
i) Gehen Sie zu dritt zusammen und einigen Sie sich auf eine Szene, die Ihnen durch ihre Gestaltungsweise insbesondere in Erinnerung geblieben ist. Sehen Sie sich die Szene erneut an und analysieren Sie sie schriftlich im Hinblick auf die dort verwendeten filmästhetischen Mittel und deren Wirkung. Kurze Beschreibungen filmsprachlicher Mittel finden Sie hier:
kinofenster.de-Glossar
Filmlexikon Universität Kiel
Eine Übersicht bezüglich des Zugriffs auf den Film finden Sie
hier.
j) Arbeiten Sie weiterhin zu dritt. Drehen Sie einen
Experimentalfilm mit maximal drei Minuten Länge. Suchen Sie sich ein oder zwei filmästhetische Mittel ihrer Wahl aus und setzen Sie diese in Szene. Greifen Sie auf Ihre Ideen aus dem Gedankenexperiment zurück. Filmen und schneiden Sie mit Ihren Smartphones. Geben Sie Ihrem Film einen Titel.
k) Veranstalten Sie ein kleines Experimentalfilmfestival. Diejenigen, die sich den Film ansehen, haben die Aufgabe, herauszufinden, welche(s) filmästhetische(n) Mittel in Szene gesetzt wurde(n) und welche Wirkung dadurch erzeugt wurde. Im anschließenden Filmgespräch geben die Regisseur/-innen preis, ob die Beobachtungen zutreffend und die von den Zuschauenden beobachtete Wirkung auch so beabsichtigt war. Eine Jury von insgesamt drei Personen kürt kriteriengeleitet die besten drei Filme.
Autor/in: Cristina Moles Kaupp (Filmbesprechung), Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 20.04.2023
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