Mahito leidet sehr unter dem Verlust seiner Mutter, die im Zweiten Weltkrieg bei einem Fliegerangriff auf Tokio ums Leben gekommen ist. Ein Jahr später zieht er mit seinem Vater aufs Land – aber besser geht es dem zwölfjährigen Jungen dort nicht. Denn Mahitos Vater hat mittlerweile Natsuko geheiratet, die jüngere Schwester der Mutter, die zudem ein Kind vom Vater erwartet und sich nun als Mahitos neue Mutter vorstellt. Mahito zieht sich zurück, weist Natsuko zurück und verletzt sich aus Frust sogar selbst. Doch als Natsuko eines Tages plötzlich verschwindet, macht sich Mahito gemeinsam mit einer älteren Haushälterin auf die Suche. Er vermutet, dass der merkwürdige sprechende Graureiher, dem er zuvor bereits im Garten des Hauses begegnet ist, etwas damit zu tun hat. Mit dem Versprechen, auch seine eigene Mutter wiedersehen zu können, lockt dieser Mahito in eine andere Welt voller geheimnisvoller Wesen.
Kaum etwas ist vorhersehbar in dem neuen
Anime von Miyazaki Hayao, alles scheint möglich. So wirkt die Reise durch die magische Welt wie eine Wundertüte, die mit ihrem schillernden Figurenpersonal an Miyazakis Klassiker
Chihiros Reise ins Zauberland (
Sen to Chihiro no kamikakushi, JP 2002) erinnert: Mahito wird mit angriffslustigen Kröten und einer Armee anthropomorpher Wellensittiche konfrontiert, trifft einen Zauberer, eine Seefahrerin sowie eine junge Frau, die Feuer herbeizaubern kann. Wie in japanischen
Trickfilmen üblich, ist die Unterscheidung zwischen "Gut" und "Böse" kaum eindeutig, da auch dubiose Figuren eigene Motive haben, die ihr Verhalten in ein anderes Licht rücken. Rasante Actionszenen wechseln sich ab mit ruhigen, geradezu poetischen Momenten. Fantastische, märchenhafte
Szenen stehen unterdessen neben solchen, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Japan spielen und auf reale Kriegstraumata verweisen. Darüber hinaus spielen visuell die Elemente Feuer, Wasser und Luft eine bedeutende Rolle, die der
Inszenierung eine sehr sinnliche Qualität verleihen.
"How do you live?" – "Wie lebst du?" beziehungsweise "Wie lebt ihr?" lautet die Übersetzung des Originaltitels, der sich auf den in Japan berühmten gleichnamigen Coming-of-Age-Roman von Genzaburo Yoshino aus dem Jahr 1937 bezieht. Genau dieser Frage wollte der
Regisseur Miyazaki nach eigenen Aussagen mit seinem Film
Der Junge und der Reiher nachgehen – und sie bietet sich auch für ein Gespräch nach dem Film an. So lässt sich etwa im Ethik- oder Religionsunterricht diskutieren, was für ein Bild der Welt Miyazaki zunächst zeichnet, für welche Werte Mahito im Film steht, wie er sich entwickelt und welche Rolle ihm bei der Gestaltung der Zukunft zukommt. Untersucht werden kann auch, wie Miyazaki mit der Darstellung von Konflikten jeglicher Art umgeht und welche Lösungsangebote der Film anbietet, wobei insbesondere auf die differenzierten Charakterisierungen der Figuren Bezug genommen werden sollte. Auf einer persönlichen Ebene lässt sich
Der Junge und der Reiher auch als Geschichte über Trauerverarbeitung lesen, wenn Mahito schließlich Abschied von seiner Mutter nimmt und sich seiner neuen Familie öffnet. Insgesamt ist im Deutsch- oder Kunstunterricht auch die Frage interessant, wodurch sich dieses Abenteuermärchen ebenso erzählerisch wie stilistisch von Animationsfilmen aus den USA oder Europa unterscheidet.
Arbeitsblatt zu Der Junge und der Reiher
Fächer: Deutsch, Ethik/Religion, Kunst ab 9. Klasse, ab 14 Jahren
Vor dem Kinobesuch:
a) Vor dem Kinostart von
Der Junge und der Reiher wurden in Japan auf Wunsch des Regisseurs Miyazaki Hayao weder eine Inhaltsangabe noch ein
Trailer oder Fotos aus dem Film veröffentlicht. Bekannt war nur der Titel (im Original: "How do you live?" / "Wie lebt ihr?" beziehungsweise "Wie lebst du?") und ein Filmplakat.
Notiert im Tandem oder Kleingruppen, welche Erwartungen ihr an den Film habt. Geht entweder von dem deutschen Titel oder dem Originaltitel aus. Haltet Ideen fest, worum es in der Handlung gehen könnte und welche Figuren und Schauplätze ihr erwartet.
b) Welche Filme von Miyazaki Hayao aus dem Studio Ghibli kennt ihr bereits? Tragt zusammen, welche Eindrücke diese bei euch hinterlassen haben und an welche Figuren,
Schauplätze oder Themen ihr euch erinnert.
Nach dem Kinobesuch:
c) Tauscht zuerst eure Sichtungseindrücke aus. Was hat euch berührt oder Überrascht. Besprecht danach eure Ideen und Antworten aus den Aufgaben a) und b). Markiert Figuren, Schauplätze und Themen, die aus Miyazakis früheren Filmen bereits bekannt sind und die nun auch in Der Junge und der Reiher wieder vorkommen.
d) Welche Merkmale sind typisch für das Figurendesign in japanischen
Animationsfilmen, so genannten
Animes? Wodurch unterscheidet sich die Darstellung der Figuren von den Hintergründen? Bezieht euch bei euren Antworten auf die folgenden beiden Bilder aus
Der Junge und der Reiher.
e) Miyazaki Hayao entwirft in
Der Junge und der Reiher eine Parallelwelt, in der zahlreiche fantastische Wesen leben. Die vier folgenden Bilder zeigen eine Auswahl. Wählt in Kleingruppen je eine Figur aus. Beschreibt, wie diese aussieht und wirkt. Geht danach darauf ein, inwiefern diese Figur die anfänglichen Erwartungen erfüllt und welche anderen Seiten im Laufe des Films von ihr gezeigt werden. Besprecht gemeinsam, wodurch sich diese Figuren von populären Animationsfilmen etwa aus den USA oder Europa unterscheiden.
f)
Der Junge und der Reiher erzählt darüber, wie Mahito in der Fantasiewelt wichtige Dinge über sich selbst und das Leben lernt. Fasst zusammen, was Mahito lernt und in welcher Szene dies zum Ausdruck kommt.
g) „How do you live?“, heißt der Filmtitel wörtlich übersetzt. Diskutiert gemeinsam: Wie stellt sich der Regisseur Miyazaki Hayao vermutlich ein gutes Leben vor? Welche Werte sind ihm wichtig? Bezieht euch dabei auf die Geschichte von
Der Junge und der Reiher.
h) Entwerft in Kleingruppen ein Grobkonzept für einen Trailer zum Film. Überlegt euch dabei,
• was ihr darin bereits über die Handlung erzählen wollt
• welche Schlagworte unbedingt fallen müssen
• welche Bilder und/oder
Szenen aus dem Film zentral sind
• welche Zielgruppe ihr ansprechen wollt
Stellt euer Konzept in der Klasse vor und diskutiert es gemeinsam. Entwickelt zusammen einen knappen Werbespruch für den Film.
i) Vergleicht euer Konzept auch mit dem offiziellen deutschen Trailer.
Besprecht, welche Entscheidungen für diesen getroffen wurden und ob dieser Trailer eurer Meinung zum Film passt und Interesse für ihn weckt. Überlegt, warum es in Japan keinen Trailer für den Film gab.
Autor/in: Stefan Stiletto, 03.01.2024
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