Hintergrund
Zehn Meilensteine aus dem Filmjahr 1968
Stanley Kubrick erreicht 1968 etwas Seltenes: Sein Werk ist der an der Kinokasse weltweit erfolgreichste Film – und im Rückblick zugleich der kanonische Klassiker jenes Jahres. Zum 50. Jubiläum von
2001: Odyssee im Weltraum erscheinen derzeit zahlreiche Würdigungen, Hintergrundgeschichten und Neubetrachtungen. Doch das Filmjahr 1968 ist vielfältig. In ihm kulminieren innovative Tendenzen des internationalen Filmschaffens, die sich in den Vorjahren entwickelt oder angekündigt hatten: Weltweit zeigt sich der Einfluss der "Neuen Wellen",
Genres werden neu definiert, Regisseurinnen verschaffen sich Aufmerksamkeit, Filmschaffende politisieren sich oder suchen neue Produktionsformen abseits der Kulturindustrie. Und auch wenn die Ereignisse auf der Straße sich selten unmittelbar auf der Leinwand widerspiegeln, so zeigt sich doch in vielen Filmen ein rebellischer Gestus. kinofenster.de präsentiert zehn Meilensteine aus dem Kinojahr 1968 aus neun verschiedenen Ländern.
Sozialkritische Parabel: Der Feuerwehrball
(Horí, má panenko, R: Miloš Forman, CSSR 1967, Premiere: 15.12.1967, internationale Premiere: 17.05.1968, FSK: 6)
1968 gilt vielerorts auch als Jahr der gescheiterten Utopien – etwa für den durch sowjetische Panzer niedergeschlagenen "Prager Frühling", der einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" etablieren sollte. Dem Reformprogramm von Alexander Dubček, Erster Sekretär der kommunistischen Partei, ging eine gesellschaftliche Liberalisierung in der ČSSR voran, die sich auch im Filmschaffen jener Jahre abzeichnet. Miloš Formans schwarze Komödie über einen von Kleinstadt-Beamten chaotisch organisierten Feuerwehrball ist repräsentativ für die oft humorvolle Sozialkritik der "Tschechoslowakischen Neuen Welle" – und seine Rezeption für das Ende dieser Film-Bewegung: Feuerwehrleute protestieren, die Regierung wittert eine Allegorie auf den Sozialismus und in der ČSSR wird der Film nach dem Ende des "Prager Frühlings" verboten. Forman emigriert nach Hollywood und die experimentierfreudige "Neue Welle" versandet aufgrund der verschärften Zensur. (jpk)
Szene (tschechisch mit engl. UT)
Der Feuerwehrball:
Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft: Weekend
(Week End, R: Jean-Luc Godard, Frankreich 1967, Premiere: 29.12.1967, deutsche Premiere im Juni 1968 auf den Internationalen Berliner Filmfestspielen; FSK: 18)
Als treibende Kraft der Nouvelle Vague in Frankreich war es Jean-Luc Godard, der in seinen Filmen am innovativsten und radikalsten mit dem klassischen Erzählkino brach.
Weekend zeugt von Godards zunehmender Politisierung unter dem Eindruck des Vietnamkriegs. Er markiert die bis dahin kompromissloseste Zuspitzung seines Stils zu einem aggressiven Angriff auf die bürgerliche Konsumgesellschaft. Dabei dient der Wochenendausflug eines Paares als erzählerischer Rahmen, um den Zerfall der Zivilisation in einem Schreckensszenario von Vergewaltigung, Totschlag und Kannibalismus zu schildern. Godard konstruiert die Wirklichkeit des Films in einem unübersichtlichen Gemenge aus revolutionärer Rhetorik, kulturphilosophischen Statements und Verweisen auf die Film- und Literaturgeschichte. Die lustvoll betriebene Dekonstruktion filmischer Konventionen muss als Angriff auf die Formen bürgerlicher Kultur verstanden werden. Und so schließt der Film, indem er in letzter Konsequenz seine eigene Abschaffung verkündet: "Ende der Geschichte. Ende des Kinos." (sl)
Französischer Trailer
Weekend:
Verweigerung bürgerlicher Ideale: Zur Sache, Schätzchen
(R: May Spils, BRD 1968, Premiere: 04.01.1968, FSK: 16)
Die erfolgreichste westdeutsche Produktion des Jahres 1968 (6,5 Millionen Zuschauer/-innen) erscheint auch aus heutiger Sicht noch überraschend: ein
Schwarz-Weiß-Film über einen Müßiggänger aus dem Münchner
Stadtteil Schwabing und eine junge bürgerliche Frau (Uschi Glas), erzählt mit einer offenen Dramaturgie und in lässiger Umgangssprache ("fummeln", "tüllich") –
inszeniert von einer Frau, die bei den Dreharbeiten gerade einmal 26 Jahre alt war. May Spils gehört damals zusammen mit Hauptdarsteller und Co-Autor Werner Enke zur "Neuen Münchner Gruppe" um Klaus Lemke und Rudolf Thome. Wie den Unterzeichnern des "Oberhausener Manifests" (1962) schwebt auch ihnen eine Abkehr vom verstaubten deutschen Nachkriegskino vor. Allerdings präferieren sie das Spiel mit filmischen Konventionen, den anarchischen Witz und die jugendliche Gegenwärtigkeit der frühen Nouvelle Vague gegenüber der Ernsthaftigkeit der "Oberhausener Gruppe". So steht
Zur Sache, Schätzchen weniger für die theoretisch fundierte Utopie der 1968er als für eine Totalverweigerung bürgerlicher Ideale: "Es wird böse enden", so lautet das melancholisch-ironische Diktum des jungen Antihelden. (jpk)
Trailer
Zur Sache, Schätzchen:
Suche nach Wahrhaftigkeit: Ich war neunzehn
(R: Konrad Wolf, DDR 1968, Premiere: 01.02.1968, FSK: 12)
Waren 1965 erst zahlreiche Filme des DEFA-Jahrgangs verboten worden, weil sie eine kritische Sicht auf den DDR-Alltag wagten und stilistisch an die internationalen Neuerungsbewegungen im Kino anknüpften, überzeugte Konrad Wolf den Parteivorstand der SED wenig später mit einer beachtlichen Abkehr von den Richtlinien des "sozialistischen Realismus". In
Ich war neunzehn schildert er die sowjetische Offensive auf Berlin in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive eines 19-jährigen Leutnants der Roten Armee. Dieser ist selbst emigrierter Deutscher, die Konfrontation mit der fremd gewordenen Heimat wird für ihn zur Identitätssuche. Den Begegnungen seines Protagonisten folgend, zeichnet der Film ein Panorama unterschiedlichster Gesinnungen und Blickwinkel auf den Krieg. So setzt er der sozialistischen Mustererzählung ein differenzierteres und um Wahrhaftigkeit bemühtes Bild der sowjetisch-deutschen Kriegserfahrung entgegen. Mittels moderner Formsprache gelang es Wolf, die "angestaubte" antifaschistische Thematik bei der jüngeren DDR-Generation wieder anschlussfähig zu machen.(sl)
Ich war neunzehn (Szenenbild, © DEFA-Stiftung)
Psychedelische Popwelten: Yellow Submarine
(R: George Dunning, GB/USA 1968, Premiere: 17.07.1968, FSK: 6)
1967 ist das Jahr, in dem Rock psychedelisch wird: Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Doors, Pink Floyd, Jefferson Airplane und The Velvet Underground veröffentlichen ihre ersten Platten. Mit ihren Alben "Revolver" (1966) und "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" (1967) erweitern auch The Beatles ihren eingängigen Pop-Sound um experimentelle, durch Drogenerfahrungen beeinflusste Klänge und kryptische Texte. Die neue Ästhetik überträgt der
Animationsfilm von Regisseur George Dunning und dem deutschen Art Director Heinz Edelmann – von der Band stammt lediglich die
Filmmusik – kongenial in psychedelische Bildwelten und trifft damit 1968 zielsicher den Zeitgeist.
Bunte Fantasiefiguren bevölkern ein surreales Paradies namens "Pepperland", die Beatles reisen im titelgebenden U-Boot durch Raum und Zeit und retten die Welt in letzter Sekunde vor den musikhassenden "Blaumiesen". Für Kinder ein Märchen, für Erwachsene ein Trip mit absurdem Humor: Mit dieser
Doppelkodierung verschafft
Yellow Submarine dem
Zeichentrickfilm neue Wertschätzung und eine Zielgruppen-Strategie, die für Pixar und Co. zum Standard geworden ist. (jpk)
Englischer Trailer
Yellow Submarine:
Indie-Film und Zombie-Klassiker: Die Nacht der lebenden Toten
(Night of the Living Dead, R: George A. Romero, USA 1968, Premiere: 01.10.1968, FSK: 16)
Dass ein kleines B-Movie filmhistorische Bedeutung erlangen kann, zeigt sich bei
Die Nacht der lebenden Toten an mehreren Faktoren: Er steht für das aufkeimende Potenzial unabhängig produzierter Low-Budget-Filme (mit einem Budget von 114.000 und Einnahmen von 12 Millionen US-Dollar), für die Blaupause des
Horror-
Subgenres Zombiefilm, für ein befreites US-Kino kurz nach der Abschaffung der Filmzensur, des sogenannten Hays Code (weshalb der Film dort zunächst ohne Altersbeschränkung erschien), und für die differenzierte Auseinandersetzung mit sozialen Konflikten im Thriller (etwa Rassismus und dem Vietnamkrieg). Sieben Personen verschanzen sich in einem
Bauernhof vor einer Horde menschenfressender Untoter, zum Leben erweckt durch die Strahlung einer fehlgeleiteten NASA-Mission. Dabei erscheinen die von Misstrauen und Feigheit geprägte Gemeinschaft der Belagerten und die von einer autoritären Bürgerwehr zum Schluss wiederhergestellte Ordnung fast genauso beunruhigend wie die Zombies. Die Besetzung des Afroamerikaners Duane Jones als einzige Heldenfigur in einem ansonsten gänzlich weißen Cast war seinerzeit höchst ungewöhnlich – und ist es in Hollywood bis heute. (jpk)
Englischer Trailer
Die Nacht der lebenden Toten :
Feministischer Film: 9 Leben hat die Katze
(R: Ula Stöckl, BRD 1968, Premiere: 12.10.1968, FSK: 18)
Bereits mehrere Jahre bevor sich eine neue deutsche Frauenbewegung formierte, schuf Ula Stöckl mit
9 Leben hat die Katze den ersten feministischen Film der Bundesrepublik. Radikal episodisch erzählt, kreist ihr Pionierwerk um die Bemühungen zweier Freundinnen, aus ihren Abhängigkeiten und Anpassungen an die patriarchale Gesellschaftsordnung auszubrechen. Der Film schockierte, rückte er doch auf unbequeme Weise die alltäglichen Sehnsüchte und Ängste von Frauen in den Fokus und verlieh dem Tabu weiblicher Lust in zahlreichen Metaphern Ausdruck. Auch formal brach der Film mit den Konventionen: Spielerisch sind
Sequenzen von dokumentarischem wie fantastischem Charakter
montiert zu einer Reflexion über die Möglichkeit weiblicher Emanzipation. Dabei nimmt sich die Regisseurin die Freiheit, in ihrem Film zu unterbrechen, abzuschweifen und zu imaginieren: Anstelle eines zusammenhängenden Plots stehen assoziative Passagen, Gedankenspiele und Träumereien als eigenständige Bruchstücke nebeneinander. (sl)
9 Leben hat die Katze (Szenenbild, © Basis-Film Verleih GmbH)
Rebellion gegen Traditionen: If …
(R: Lindsay Anderson, Großbritannien 1968, Premiere: 19.12.1968, FSK: 16)
Als Lindsay Andersons Film
If … im Dezember 1968 in die Kinos kam, erschien er als treffender Kommentar auf ein Jahr, das im Zeichen von jugendlichem Widerspruch und Aufbegehren stand: Erzählt wird darin von der Rebellion dreier Schüler gegen die auf Hierarchie und Züchtigung basierende Ordnung eines britischen
Elite-Internats. Der Verzicht auf spezifisch zeitgenössische Referenzen macht den Film zu einer universellen Allegorie darauf, wie repressive Systeme Revolten produzieren. Nahtlos changiert Anderson in der
Inszenierung nicht nur zwischen
Farb- und Schwarzweiß-Bildern, sondern auch zwischen Realismus und Imagination – ein missglückter Flirt zwischen dem Protagonisten Mick Travis und einer Kellnerin mündet etwa in ein rauschhaft erotisches Abenteuer der beiden inmitten des Cafés. Im freien Spiel der Vorstellungskraft entfaltet der Film seine anarchische Kraft auch ästhetisch. (sl)
Englischer Trailer
If …:
Abgesang auf einen Mythos: Spiel mir das Lied vom Tod
(C'era una volta il West, R: Sergio Leone, I/USA 1968, Premiere: 21.12.1968, FSK: 16)
An einem abgeschiedenen
Bahnhof warten drei Männer. Einer döst, ein zweiter vertritt sich die Beine, ein dritter fängt eine lästige Fliege im Lauf seines Colts. Zehn Minuten lang "passiert nichts", heißt es oft über die
Eröffnungssequenz des Films. Und doch ist gerade sie im kollektiven Gedächtnis geblieben – weil auf der filmischen Ebene ziemlich viel "passiert": Die rauen Gesichter der Männer in Cinemascope, die harten
Schnitte zwischen
Totalen und Close-ups und das quietschende Windrad auf der
Tonspur erzeugen eine kaum erträgliche Spannung. Sergio Leone hat mit
Spiel mir das Lied vom Tod vielleicht den ultimativen
Western gedreht. Das findet damals schon Wim Wenders, der in seiner verbitterten Kritik den Tod des
Genres proklamiert: "Dieser hier ist der letztmögliche, das Ende eines Metiers." (Filmkritik, 1969) Mit Leone und seinem Komponisten Ennio Morricone schufen zwei Italiener den Abgesang auf einen amerikanischen Mythos: Die Geburt der Nation, der Traum der Freiheit – und dessen Scheitern am Kapital. (jpk)
Englischer Trailer
Spiel mir das Lied vom Tod:
Kino und Revolution: Die Stunde der Hochöfen (auch: Die Stunde der Feuer)
(La hora de los hornos, R: Pino Solanas, Octavio Getino, Argentinien 1968, Premiere: 1968, FSK: nicht geprüft)
Mit dem Manifest "Für ein Drittes Kino" schufen die Regisseure Pino Solanas und Octavio Getino 1969 die theoretische Grundlage einer Bewegung, die den Film als Instrument im Kampf gegen neokoloniale Repression betrachtete. Ihr Regie-Debüt
Die Stunde der Hochöfen (auch:
Die Stunde der Feuer) ist ein Schlüsselwerk dieser Bewegung und Inbegriff eines agitatorischen Kinos. In viereinhalb Stunden entfaltet das monumentale Collage-Werk seine These vom Befreiungskampf als einziger Alternative zur politischen, kulturellen und ökonomischen Abhängigkeit Argentiniens und der gesamten "Dritten Welt". Dazu verknüpfen die Filmemacher eine überwältigende Vielfalt an Material zu einer komplexen Bild-Ton-
Montage in der Tradition der sowjetischen Regisseure Sergej Eisensteins und Dsiga Wertovs. Ihren Film verstehen sie als offene Anregung zur Diskussion: Während der Vorführungen, die in Argentinien zunächst über ein alternatives Distributionsnetzwerk im "Untergrund" stattfanden, wurde die Projektion mehrfach unterbrochen, damit das Publikum darüber ins Gespräch kommen konnte, wie die Erkenntnisse aus dem Film in eine revolutionäre Praxis zu überführen seien. (sl)
Szene (span.)
Die Stunde der Hochöfen:
Autor/in: Sarina Lacaf (sl), freie Redakteurin und Filmvermittlerin, und Jan-Philipp Kohlmann (jpk), Redakteur kinofenster.de, 11.06.2018
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