Kategorie: Interview
"Den Holocaust greifen Trümmerfilme selten auf"
Filmhistoriker und Autor Rolf Aurich im Interview über die in Deutschland nach Kriegsende gedrehten sogenannten Trümmerfilme

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten Spielfilme, die in den Ruinenlandschaften der Großstädte spielten, eine besondere Episode der deutschen Filmgeschichte. Über diese sogenannten Zum externen Inhalt: Trümmerfilme (öffnet im neuen Tab) sprach kinofenster.de mit Rolf Aurich. Der Filmhistoriker und Autor ist wissenschaftlicher Redakteur der Deutschen Kinemathek in Berlin und dort verantwortlich für Publikationen, darunter die Schriftenreihen Film & Schrift und Fernsehen – Geschichte – Ästhetik.
kinofenster.de: Die Vorstellungen vom deutschen Film der Nachkriegszeit sind maßgeblich von sogenannten Trümmerfilmen geprägt. Unter welchen politischen Rahmenbedingungen sind die Filme entstanden?
Rolf Aurich: Unter dem unmittelbaren Eindruck des staatlich gelenkten Kinos der NS-Zeit war an eine eigenständige deutsche Filmproduktion nicht zu denken: In den Kinos liefen zunächst importierte, in deutschen Ateliers synchronisierte Filme der vier Siegermächte. Die Filmschaffenden blieben abhängig von Entscheidungen der zuständigen alliierten Stellen der jeweiligen Besatzungszone. Das betraf auch ein sogenanntes "Filmaktiv" in Berlin, das durch sowjetische Initiative bereits im August 1945 zusammengekommen war, um neue Grundlagen des Films in Deutschland zu finden. Im Jahr darauf ging daraus die Zum externen Inhalt: DEFA (öffnet im neuen Tab) hervor. Als die Alliierten ab 1946 Lizenzen an Produktionsfirmen erteilten, entstanden auch Lustspiele und Schwänke, Sexualaufklärung, Zum Inhalt: Melodramen und anderes. Die filmgeschichtliche Phase zwischen 1946 und 1949 lässt sich also nicht allein über Trümmerfilme beschreiben.
kinofenster.de: Zeigen die Filme Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung?
Rolf Aurich: Trümmerfilme thematisieren den materiellen, geistigen und seelischen Zusammenbruch in Deutschland als Folge des NS-Regimes und des Kriegs. Den Holocaust greifen sie selten auf. In Zum Filmarchiv: "Die Mörder sind unter uns" (Wolfgang Staudte, DE 1946) ist die Hauptfigur eine KZ-Überlebende; das wird allerdings eher am Rande erzählt – im Mittelpunkt stehen deutsche Kriegsverbrechen. "Lang ist der Weg" (Herbert B. Fredersdorf, Marek Goldstein, DE 1948) und "Morituri "(Eugen York, DE 1948) gehören zu den Arbeiten mit starkem Konfrontationspotential fürs Publikum und nehmen eine dezidiert jüdische Perspektive ein. "Rotation "(Staudte, DE 1949) betont dagegen die Verantwortung der vermeintlich Unpolitischen im NS-System. Auch die "Innere Emigration" ist ein Thema, wie in Helmut Käutners "In jenen Tagen" (DE 1947) als Kollektion privater Schicksale während der NS-Diktatur. Gleichzeitig lässt die Mehrzahl der Filme den Wunsch erkennen, Normalität und Ordnung rasch wieder zu etablieren.
kinofenster.de: Inwieweit stehen die Filme für einen Neuanfang des deutschen Films?
Rolf Aurich: Personelle Kontinuität war – wie auf anderen Gebieten – eine Selbstverständlichkeit: Es gab in Deutschland kaum Unbelastete beim Film und auch kaum Rückkehrer aus dem Exil. Ohne die vorhandenen Kräfte hätten die Filme nicht entstehen können. So erklärt sich auch das Fortleben von künstlerischen Handschriften aus der NS-Zeit und das weitgehende Fehlen neuer individueller Ausdrucksweisen. Der scheinbare Zum Inhalt: Expressionismus in "Die Mörder sind unter uns" und anderen Produktionen hängt auch mit der äußeren Erscheinung der Trümmerstädte zusammen. Bezeichnend erscheint mir die Hartnäckigkeit motivischer Vorurteile und Klischees des NS-Films, etwa die negative Wertung von Jazzmusik. Wenn einige wenige Filme den Neuanfang, auch den des Films, ausdrücklich erörtern, dann ist dies eine Folge ihrer Zum Inhalt: Drehbücher – so bei "Film ohne Titel" (Rudolf Jugert, DE 1948) oder "Und wieder 48" (Gustav von Wangenheim, DE 1948).
kinofenster.de: Wie wurden die Filme von der Presse und dem Publikum aufgenommen?
Rolf Aurich: Vor allem wenn sie das Elend der Lebensgegenwart düster und verquält auf die Leinwand brachten, fanden Trümmerfilme in Deutschland wenig Zuspruch. Das Publikum empfand sie eher als realitätsferne Lebensanweisung denn als realistische Bestandsaufnahme. Die symbolschwere Heimkehrertragödie "Liebe 47" (Wolfgang Liebeneiner, DE 1949) etwa, eine Zum Inhalt: Adaption von Wolfgang Borcherts sehr erfolgreichem Hörspiel und Theaterstück Draußen vor der Tür (1947), hätte die junge Produktionsfirma Filmaufbau Göttingen beinahe ruiniert. Besonders Produktionen aus den westlichen Besatzungszonen hatten geringe Exportchancen. Insofern ist es fast erstaunlich, dass noch bis 1949, als mit Gründung beider deutscher Staaten beim Film neue organisatorische Strukturen und klarere inhaltliche Ausrichtungen folgten, Trümmerfilme entstanden. Erfolgreicher waren mitunter die raren Filme mit satirischen Anklängen wie "Der Apfel ist ab" (Käutner, DE 1948) oder Zum Filmarchiv: "Berliner Ballade" (Robert A. Stemmle, DE 1948), die auch bei den Filmfestspielen 1949 in Cannes und Venedig gezeigt wurden.
kinofenster.de: Existieren vergleichbare internationale Beispiele für Trümmerfilme?
Rolf Aurich: Trümmerfilme im strikten Sinn entstanden nur in Deutschland, dem Land der Täter. Auch Wien war kriegszerstört. Doch die dort gedrehten Filme Zum Filmarchiv: "Der dritte Mann" ("The Third Man", Carol Reed, GB 1949) oder "Die Vier im Jeep" (Leopold Lindtberg, CH 1950) erzählen andere Geschichten – gegenwärtiger, realistischer, härter. Auch starbesetzte US-amerikanische Filme wie Billy Wilders Zum Inhalt: Komödie "Eine auswärtige Affäre" ("A Foreign Affair", 1948) oder Jacques Tourneurs Zum Inhalt: Thriller "Berlin-Express" (1948), beide in Berlin gedreht, sind nicht vergleichbar mit deutschen Trümmerfilmen. Anders sieht es bei Roberto Rossellinis Zum Filmarchiv: "Deutschland im Jahre Null "("Germania anno zero", IT 1948) aus, der im Kontext des italienischen Zum Inhalt: Neorealismus zu sehen ist. Dem Film fehlt jeder Optimismus, was im Vergleich mit Gerhard Lamprechts Wiederaufbau-Film "Irgendwo in Berlin" (DE 1946) besonders auffällt, der ebenfalls die Situation von Kindern zeigt.
kinofenster.de: Worin liegt die Bedeutung der Trümmerfilme für die heutige Filmbildung, auch in erinnerungskultureller Hinsicht?
Rolf Aurich: Womöglich wirken die Filme mit ihren Figuren, moralischen Maßstäben und inszenatorischen Eigenarten für ein heutiges Publikum ungewohnt. Aber gerade das macht sie interessant: Ihre Formen und Storys können als mentale Quellen ihrer Entstehungszeit ebenso betrachtet und untersucht werden wie als vielgestaltige Repräsentanten einer filmhistorischen und politischen Epoche. Dazu müssen sie kontextualisiert werden – film- und zeitgeschichtlich. Generationen, die NS-Zeit, Krieg und Nachkriegszeit als Stoff aus Historienfilmen kennen, bieten Trümmerfilme dazu eine Möglichkeit, Sehgewohnheiten aufzubrechen und Vorstellungen zu hinterfragen.