Hintergrund
Momentaufnahmen aus dem Reich der Mitte
Vom Tor des himmlischen Friedens herunter lächelt der Große Vorsitzende Mao verhalten auf die dichtgedrängten Menschenmassen auf dem zentralen Platz von Beijing (Peking). Chinesen treten dort in Massen auf – entsprechend rigoros bis rücksichtslos wirken sie auf den Betrachter. Es herrscht Ellenbogenmentalität. Dabei scheint es überhaupt nichts auszumachen, wenn einer das Gesicht verliert und schimpft und tobt.
Prinz und Prinzessin
Der Große Vorsitzende schaut auf Familien, die durch das Tor des himmlischen Friedens zum Eingang der Verbotenen Stadt der Kaiser streben. Großeltern, Eltern und jeweils ein ‘Prinz’. Einer chinesischen Familie wird vom Staat nur ein Nachkomme erlaubt. Wenn es ein Sohn ist, wird er gehätschelt und verwöhnt. Doch es sieht nicht so aus, als würden die Töchter, die ‘Prinzessinnen’ liebloser behandelt. Zumindest in den Städten haben nur wenige ein zweites Kind und die damit fällige Geldstrafe auf sich genommen.
Nachttopfabholer
Jenseits protzender Fassaden der Postmoderne leben die Chinesen in diesen Städten wie in der Vergangenheit: Eingeschossige Hütten und Häuser ducken sich direkt unter Wolkenkratzern. Familien drängen sich auf wenigen Quadratmetern. Individualität, Intimsphäre ist unmöglich. In den Straßen gibt es zahlreiche öffentliche Toiletten, weil die Wohnungen keine Klos haben. In Shanghai radeln immer noch Nachttopfabholer durch die Straßen.
Lebensraum Straße
Die Straße ist Lebensraum, Büro, Arbeitsstätte, Restaurant. Oder besser: die Gehsteige sind es – die Straßen sind Baustellen. Zwischen den Baugruben toben Taxis, Betriebswagen und Limousinen mit schwarzen Fenstern, in denen Parteifunktionäre und Großindustrielle transportiert werden. Dazwischen die Rudel der Radfahrer. Alles ist im Fluss, keiner will stehenbleiben.
Handys und Handleser
Auf den Gehsteigen florieren die Geschäfte: Friseure schwingen die Scheren. Telefonbesitzer haben ihre Apparate an langer Leitung nach draußen geschleppt und in öffentliche Fernsprecher verwandelt. Sie bekommen allerdings Konkurrenz vom jüngsten Statussymbol in China, dem allgegenwärtigen Handy. Wer eine Luftpumpe und einige Schraubenschlüssel sein Eigen nennt, hat eine Fahrrad-Reparaturwerkstatt eröffnet. Man kann alle paar Meter an einer Garküche essen. Wantan-Suppen dampfen und kleine Skorpione schmurgeln im siedenden Öl. Seit privater Verdienst mitten im Sozialismus zugelassen ist, blüht überall die Eigeninitiative. Sogar Handleser bieten ihr Können an und werden eifrig konsultiert.
Mauern gegen Geister
Buddhismus, Konfuzianismus (eigentlich eine Philosophie) und Taoismus sind trotz staatlich behauptetem Materialismus Chinas offizielle Religionen. Doch der Geisterglaube dominiert immer noch. Man achtet darauf, dass die Häuser nach den Richtlinien uralter Geomantik gebaut werden, den Eingang nach Süden, die Rückseite möglichst nach einem Hügel ausgerichtet. Auch um moderne Wolkenkratzer werden gern Mauern gezogen, um die Geister abzuhalten.
Jenseits der Zeit-Schneise
Schon durch die Städte scheint sich eine Zeit-Schneise zu ziehen. Zwischen Stadt und Land ist der Zeitbruch noch größer. Auf den Dörfern tragen die Menschen weiterhin die Einheitskleidung von Maos "blauen Ameisen". Sie sind froh, wenn es Anschluss ans Elektrizitätsnetz gibt. Sogar landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge sind Raritäten. Lasten werden auf den Schultern transportiert. Landwirtschaft wird betrieben wie zu Zeiten der Han-Kaiser. Die Fischer an den großen Strömen gehen mit dressierten Kormoranen auf Fang.
Wettstreit der Cola-Marken
Auf dem Land weiß man nichts davon, dass Shanghais Hauptgeschäftsstraße in ihrem östlichen Teil vom Markenzeichen Pepsi Cola, in ihrem westlichen Teil vom Konkurrenten Coca Cola beworben wird. Im Ostteil kaufen die älteren Leute, wird gesagt. Im Westteil gebe es die eleganteren Waren. Hier richtet man sich nach der Mode, genau wie in hochkapitalisierten Sonderwirtschaftszonen wie Shen Zen. Aber genau hier liegt der Konfliktstoff für die Zukunft der Volksrepublik China. Die Volksmassen auf dem Land fühlen sich immer stärker vernachlässigt. Zwischen High Tech und Mittelalter drohen die Menschen zerrieben zu werden. Politische Konzepte zur Überbrückung dieser Klüfte sind nirgends in Ansätzen zu ahnen. Trotz weltanschaulicher Öffnung und ökonomischer Revolution hat der große Vorsitzende Mao keinen Grund, allzu zuversichtlich vom Tor des Himmlischen Friedens zu blicken.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006