Einführung
Migranten und Grenzgänger
Szene aus dem Film IN THIS WORLD
Den Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom Juli 2003 zufolge blieb die Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands im Jahr 2002 relativ konstant und verzeichnete sogar einen leichten Bevölkerungszuwachs von 219.000 Menschen. Dieser ist nicht einem Geburtenüberschuss zu verdanken, sondern vor allem den 152.000 Ausländer/innen, die in diesem Jahr zugezogen sind. Ohne sie würde sich das große Problem der Alterspyramide und der schwindenden Zahl der Beitragszahler für die sozialen Sicherungssysteme noch mehr beschleunigen. Um den Alterungsprozess in unserer Gesellschaft zu stoppen, müssten theoretisch beim derzeitigen Stand der Geburten und Todesfälle jährlich über eine Million Menschen nach Deutschland kommen, so Jürgen Dorbritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Nur wenige von ihnen sind aber wirklich erwünscht, die meisten lernen das Land als "Illegale" kennen und nicht jede/r ist auch bereit, zu arbeiten.
Szene aus KLEINE SCHMUTZIGE TRICKS
Das Allgemeine und das Besondere
Armut, Hunger, Kriege, Verfolgung, manchmal auch "nur" die Erwartung persönlicher Vorteile und die Hoffnung auf eine Verbesserung des eigenen Lebensstandards und reale Zukunftsperspektiven führen zu einer steigenden Zahl von Migranten weltweit. Im Zeitalter der Globalisierung und der sich öffnenden Grenzen in Europa haben Migrationsbewegungen eine neue Dimension gewonnen, zumal sich das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich eher noch verstärkt hat. Das Gleiche gilt für die Zahl der "Grenzgänger", die zur Sicherung ihrer Lebensgrundlage zwischen einzelnen Staaten hin- und herpendeln. Viele kehren auf Dauer ihrer alten Heimat den Rücken, reisen nicht selten illegal in andere Länder ein und müssen sich in einer fremden Umgebung arrangieren und einleben. Sie machen dabei oft die Erfahrung, dass die Grenzen keineswegs so offen sind, wie es offizielle Verlautbarungen verheißen, die "Reise" in das fremde Land oft unter größter Lebensgefahr und Aufbietung der letzten finanziellen Reserven erfolgt und die neuen Gastländer die Neuankömmlinge nur selten willkommen heißen. Reibungsflächen und Konflikte entstehen mit den "Einheimischen" und beide Seiten sind plötzlich gefordert, persönliche Entscheidungen zu treffen, die Toleranz, Mut und Engagement abverlangen. In öffentlichen Diskussionen über Asylrecht und Einwanderungspolitik wird nicht selten vergessen, dass hinter jedem/r Migranten/in ein Einzelschicksal steht, ein Mensch, der nicht selten extreme Erfahrungen gemacht hat. Auch mit der gängigen Trennung von politisch Verfolgten und so genannten Wirtschaftsflüchtlingen kommt man nicht sehr weit, sobald man mit dem Menschen selbst und seiner persönlichen Lebensgeschichte konfrontiert wird. Die gerade in den letzten Jahren durch Kriegswirren sogar in Europa, allgemeine Arbeitsmarktsituation, Alterspyramide und Öffnung der Grenzen gen Osten hin verstärkt geführte Auseinandersetzung um Migranten und Grenzgänger führt weder politisch noch sozial zu einfachen Lösungen.
Szene aus LICHTER
Eine kinotaugliche Thematik
Auch von der Filmindustrie wurde das drängende Problem längst als wichtiges Thema erkannt. So liefen beispielsweise zwei der in dieser Doppelausgabe vorgestellten Filme im Wettbewerbsprogramm der Berlinale 2003 und auf dem Europäischen Filmfest Stuttgart im Juli 2003 widmete sich sogar mehr als ein Drittel aller Wettbewerbsbeiträge diesem Thema. Mehr als jedes andere Medium können Filme dazu beitragen, für die Problematik und insbesondere die menschlichen Schicksale der Migranten zu sensibilisieren und die Öffentlichkeit über wichtige Aspekte dieser globalen Herausforderung zu informieren.
Die Filme dieser Doppelausgabe
LICHTER von Hans-Christian Schmid präsentiert in Parallelmontage sechs Kurzgeschichten über Menschen, die von diesseits oder jenseits der Oder kommen und auf der Suche nach ihrem Glück sind. Der Grenzfluss trennt nicht nur das deutsche Frankfurt vom polnischen Slubice, sondern ganze Welten. Durch das Schicksal werden die Protagonisten der verschiedenen Geschichten miteinander verbunden. Jede/r von ihnen versucht auf ihre/seine Weise, mit den Bedingungen dieser unterschiedlichen Welten zurechtzukommen und über persönliche Beziehungen auch ein Stück Menschlichkeit zu wahren. Unter dem programmatischen Titel IN THIS WORLD schildert der britische Filmemacher Michael Winterbottom in dokumentarisch authentisch wirkenden Bildern die lebensgefährliche Reise zweier afghanischer Flüchtlinge von einem pakistanischen Flüchtlingslager aus über den Iran und die Türkei in das französische Auffanglager Sangatte und von dort nach Großbritannien. Die tragisch endende Reise soll den beiden Cousins und ihrer Familie die Möglichkeit für ein besseres Leben eröffnen. Wie Tausende andere begeben sie sich deshalb in die Hände von Schleusern, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Aus aller Herren Länder bereits in London angekommen sind die Menschen aus KLEINE SCHMUTZIGE TRICKS von Stephen Frears, der hier als Preview vorgestellt wird. In einem Hotel bilden sie einen multikulturellen Mikrokosmos, der ihr Leben als illegale Einwanderer in der Fremde zeigt, in dem sie erneut als Ware degradiert werden. Ein aus politischen Motiven geflohener nigerianischer Arzt findet heraus, dass das Hotel, in dem er illegal als Nachtportier arbeitet, auch für Operationen und Organhandel genutzt wird. Opfer sind verzweifelte Immigranten, die auf diese Weise eines ihrer Organe für einen Pass eintauschen wollen. Die Situation spitzt sich zu, als der Arzt erpresst wird und selbst eine Operation an seiner türkischen Freundin durchführen soll.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006