Interview
Im Dialog mit der Jugend
Ein Gespräch mit Torun Lian zu ihrem Film Die Farbe der Milch
Das Interview führte Holger Twele.
Interviewpartner: Torun Lian
Wie haben Sie die beiden Hauptdarsteller/innen gefunden?
Torun Lian: Wir entdeckten die beiden durch den Besuch fast aller Schulklassen der entsprechenden Altersstufe in Oslo. Ich versuche, Kids zu finden, die fähig und nett sind, die auch bereit sind, hart und nicht zu sehr auf sich selbst bezogen zu arbeiten. Es ist wichtig, dass sie sozial begabt sind. Für Julia und Bernard war es ihre erste Filmrolle.
Die beiden mussten glaubhaft sehr persönliche Gefühle zeigen. Gab es Widerstände oder Ängste?
Natürlich! "Liebes"-Szenen sind beispielsweise schwierig, denn sie müssen dabei ihre Schüchternheit überwinden. Deshalb übernahm ich in den Proben zunächst oft den jeweiligen Gegenpart, was für sie nicht so peinlich war. Es ist für sie leichter, wenn sie meinen Emotionen folgen können, statt diese selbst zu entwickeln. Sie können sich darauf konzentrieren, "zu antworten" und einfach nur da zu sein.
Die Mädchen wetteifern darum, wer sich am besten "tot stellen" kann. Warum haben Sie diese Szenen eingefügt?
Es ist wie im Märchen mit der Prinzessin, die 100 Jahre schlief und dann vom Prinzen wach geküsst wird. Ich wollte damit ausdrücken, dass Selma sehr bald aufwachen und etwas wahrnehmen muss, was sie bisher nicht sehen wollte. Die Zeit ist reif für sie.
Wie beurteilen Sie die Sexualerziehung an norwegischen Schulen?
Ich weiß nicht viel darüber, aber ich denke, dass sie ziemlich gut ist. Ohnehin scheinen Kinder heute mehr über die Sexualität zu wissen als ich in diesem Alter. Sie kennen das aus dem Internet, der Werbung, Zeitungen und Zeitschriften. Sie machen keine große Sache daraus. Liebe ist ja nichts Außergewöhnliches, oder?
Sind Nacktheit und Sexualität in Norwegen tatsächlich "die natürlichste Sache der Welt"?
Sie sind es, und selbst wenn sie nicht "die natürlichste Sache der Welt" wären, sind sie doch allgegenwärtig. Die Grenzen von dem, was Kids zeigen oder auch sehen wollen, sind fließend. Die Begleitumstände der "Nacktheit" entscheiden darüber, wie "natürlich" sie empfunden wird. Nacktheit hat immer noch viel mit Verletzbarkeit zu tun. Wer Nacktheit zeigt oder sucht, glaubt vielleicht, damit die eigene Unverletzbarkeit auszudrücken, aber so einfach ist das nicht.
Gehen Kinder mit ihrer Pubertät heute offener und freier um als zu Ihrer Zeit?
Ich gehe davon aus, dass sie dasselbe Ausmaß an Problemen haben, aber diese nehmen in anderen Zeiten andere Formen an. Das eigentliche Problem bleibt aber gleich: Habe ich ein Herz oder nicht? Liebe ich? Werde ich geliebt? Der menschliche Reifungsprozess ist ja grundsätzlich mit Liebe und Sexualität und dem Umgang damit verbunden. Sexualität hatte schon immer viele Facetten von tief greifender Schönheit bis zum brutalen Machtspiel, von der reinen Liebe bis zur üblen Manipulation. Sie fordert jeden Menschen heraus.
Versucht Ihr Film, Kinder in ihrer Identitätsfindung zu unterstützen?
Ich versuche, ihnen zu helfen und ihnen zu vermitteln, dass ich mich für ihre Probleme interessiere, aber ich bin sicher, dass sie auch ohne mich und meine Filme finden, was sie brauchen. Ich sehe meine Arbeit eher als ständigen "Dialog" zwischen mir und ihnen.
Warum ist Selma ihrem Vater gegenüber so barsch?
Sie befindet sich in einem Abschnitt ihres Lebens, der Änderungen mit sich bringt und sie ist verunsichert. Das macht sie aggressiv und das ist ganz normal. Sie benötigt diese Aggression, um durch einen schwierigen Lebensabschnitt zu kommen. Sie muss stark sein. Andererseits denke ich, dass man in einer Familie auch barsch zueinander sein darf. Die Familie ist ein sicherer Ort, um sich selbst in vielen Variationen auszudrücken. Zwischen Selma und ihrem Vater gibt es auch eine bestimmte Art von Humor und Ironie. Das verbindet sie trotz der Tatsache, dass Selma nun einige Probleme in ihrem Leben hat, bei denen ihr Vater nicht mehr direkt helfen kann. Sie muss mit ihnen alleine zurechtkommen. Das ist Teil des Reifungsprozesses.
Wie kamen Sie auf die Idee mit der Milch, die dem Film auch seinen Titel gab?
Das Bild kam mir in den Sinn beim Schreiben des Romans, auf dem der Film basiert. Es ist ein Teil des kreativen Prozesses, dass einem Bilder vorschweben, die man sich dann zunutze macht.
Welche Eigenschaften muss ein guter Film für Kinder und Jugendliche haben?
Es ist schwer zu beurteilen, was ein guter Film für Kinder und Teenager ist. Ein äußerst schrecklicher und gewalttätiger Film kann gerade richtig dafür sein, dass sich jemand ändert und beschließt, von nun an die netteste Person für den Rest ihres oder seines Lebens zu sein. War der Film dann also gut oder schlecht?
Ihr Film kommt erst zwei Jahre nach seiner Fertigstellung in die deutschen Kinos. Wundert Sie das?
Das passiert immer wieder, auch in Norwegen. Ich bin sehr froh, glücklich und stolz darauf, dass mein Film nun in Deutschland in die Kinos kommt. Und ich hoffe, dass er denen, die ihn sehen, das gibt, was ich selbst an Filmen mag: Freude.
Autor/in: Holger Twele, 06.02.2007
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