Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte IV: Die Wunden des Alltags - Großbritanniens realistischer Film
Maurice ist ein Fotograf, der seinen Kunden nur mühsam das übliche Linsen-Lächeln vor der Kamera antrainieren kann. Eine Frau jedoch dreht ganz bewusst ihre Wange zum Objektiv. Sichtbar wird eine Narbe von der Schläfe zum Kinn. So will sie fotografiert werden, realistisch, ungeschönt, vom Leben verwundet. Es ist, als hätte Mike Leigh mit dieser Szene aus seinem Film Lügen und Geheimnisse (1995) das visuelle Kürzel zu einer Programmatik des britischen Kinos gefunden. Während der Rest der Welt im schönen Lügen-Schein der Traumfabriken selbsttrügerisch zu versinken droht, schlagen die Filmemacher Großbritanniens nahezu trotzig ihren realistischen Gang ein. Regisseure wie Stephen Frears, Ken Loach, Mike Leigh – selbst oder auf ganz eigenwillige Weise auch Terence Davies – beharren darauf, dass der Stoff des Kinos nicht die Utopie von Superhelden oder Sentiment-Familien sei, sondern der Alltag. Sie finden ihre Figuren beim Nachbarn um die Ecke, in der Kneipe nebenan, versammelt vor dem Arbeitsamt. Sie kümmern sich um die 'Klasse', die vom Mainstream-Film derzeit nirgends wahrgenommen wird, um die Arbeiter. Sie beobachten diese Menschen mit der unauffälligen Kamera in Augenhöhe, wie sie dem Dokumentaristen angemessen ist. Keine Montage-Mätzchen, keine Clip-Ästhetik verwandeln das Kino in Drogen-Ersatz. Der geduldige Blick registriert, wie Menschen sich im Leben mühen – und manchmal sogar zum Lächeln fähig sind, obwohl es Steine hagelt. Raining Stones ist der Titel eines Films von Ken Loach über zwei tapfere Männer ohne Arbeit aus dem Jahr 1993.
Die Hauptvertreter des britischen Films in den 90ern stehen in einer langen Tradition, die sie nicht zu Gunsten des Kommerz-Erfolgs verlassen wollen. Begründer dieser Tradition war John Grierson, ein Dokumentarist der 20er und 30er Jahre. Bezeichnend für seine Entwicklung ist, dass er zuerst Hollywoods Manipulationstechniken untersuchte, bevor er in England Meisterwerke drehte und produzierte wie Drifters (1929), ein Film über Heringsfischer, oder Nightmail (1936), in dem es über die Arbeit von Postverteilern in Nachtzügen geht. Grierson schuf damit ein Fundament gegen die Einvernahme der englischen Filmwirtschaft durch Hollywood, die schon wegen der Sprachidentität zu forcieren versucht wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb eine Gruppe von Filmtheoretikern und Filmkritikern diese Linie mit ihrem Wechsel in die Regie-Praxis fort. Sie stellte zwischen 1956 und 1959 sechs Kinoprogramme mit realistischen Filmen unter dem Motto "Free Cinema" zusammen. Aus dem Motto wurde die Bezeichnung für eine Regieschule, der Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson als führende Köpfe angehörten. Ihre wichtigsten Produktionen: Blick zurück im Zorn (Richardson, 1959), Samstagnacht bis Sonntagmorgen (Reisz, 1960), Bitterer Honig (Richardson, 1961), Die Einsamkeit des Langstreckenläufers (Richardson, 1962), Lockender Lorbeer (Anderson, 1963), If... (Anderson, 1968). Allen diesen Filmen war gemeinsam, dass sie das (meist schwache) soziale Milieu ihrer Figuren sorgfältig ausleuchteten und die Protagonisten in ihrer gesellschaftlichen Abhängigkeit vorführten.
Das "Free Cinema" blieb lange die einzige künstlerisch relevante Bewegung des britischen Nachkriegs-Kinos, das sich sonst im Erfolg von 'James Bond' oder der Monumentalfilme eines David Lean (Dr. Schiwago) sonnte. Erst zu Beginn der 80er Jahre gab es mit Regisseuren wie Bill Forsyth (Local Hero, 1982), Karl Francis (Giro City, 1982) oder Stephen Frears (Mein wunderbarer Waschsalon, 1985) einen neuen Schub für das Kino der Alltagshelden. Alle diese Filme protestierten implizit gegen die so genannte konservative Revolution der Regierung von Margaret Thatcher. Ihre Produktion wurde durch ein neues Finanzierungsmodell des Privatsenders "Channel 4" ermöglicht. Die Gelder flossen nicht üppig, setzten daher Fantasie frei und führten durch die mediale Vernetzung zu Erfolgen auf dem Markt.
Der damals so genannte "Neue Britische Film" ist die Basis für das soziale Kino der Gegenwart, das sich nun mit den negativen Folgen des Thatcherismus auseinandersetzt. Selbst noch eine Erfolgskomödie wie Vier Hochzeiten und ein Todesfall von Mike Newell (1993), ein Serienkillerfilm wie Butterfly Kiss von Michael Winterbottom (1994) oder eine Drogengroteske wie Trainspotting von Danny Boyle (1996) sind im englischen Unterschichtmilieu verankert und fliegen nicht ohne sozialen Haltepunkt in die Unterhaltungsträume.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 12.12.2006