Hintergrund
Bewegte Fantasie - Der Animationsfilm zwischen Kunst und Kommerz
Jede Generation kennt ihre Animationshelden – ob im Kino oder im Fernsehen: 1919 stromerte bereits
Felix the Cat (Pat Sullivan, Otto Messner) in kurzen Episoden über die US-amerikanischen Leinwände und in den 1970er-Jahren machte der sympathische Büroangestellte Herr Rossi dem italienischen Fernsehpublikum in Serien wie
Herr Rossi sucht das Glück (
Il Signor Rossi cerca la felicità) vor, wie man den Widrigkeiten des modernen Lebens trotzt.

Madagascar 2
Mit dieser Figur traf der Trickfilmer Bruno Bozzetto den Zeitgeist ebenso wie heute die auch für das Kino adaptierten
Simpsons (
Die Simpsons - Der Film,
The Simpsons Movie, David Silverman, USA 2007). Der
Animationsfilm boomt dank der digitalen Revolution; dies beweisen die Filmerfolge der letzten Jahre, etwa des Ogers Shrek, dessen Leinwandexistenz bereits durch mehrere Sequels, zuletzt
Shrek der Dritte (
Shrek the Third, Chris Miller, Raman Hui, USA 2007) fortdauert.
Madagascar (Eric Darnell, Tom McGrath, USA 2005) ebenfalls ein Produkt der US-amerikanischen Dreamworks Animation Studios, spielte weltweit über 500 Millionen Dollar ein. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis das Erfolgrezept in
Madagascar 2 (
Madagascar - Escape 2 Africa, Eric Darnell, Tom McGrath, USA 2008) neu aufgelegt wurde.
Stop-Motion
Der Animationsfilm ist so alt wie die Kinematografie. Verstanden als die menschliche Fähigkeit zur Auflösung eines Bewegungsvorgangs in Einzelbilder und deren Rekonstruktion zwecks nachträglicher Wiedergabe, ist die Animation sogar ein viel älteres kulturgeschichtliches Phänomen: Früheste Zeugnisse reichen 15.000 Jahre zurück zu den Höhlenmalereien in Altamira, wo die doppelt gezeichneten Läufe eines Ebers den Eindruck von Bewegung vermitteln sollten. Filmisch bezeichnet Animation ein Verfahren, bei dem ein Objekt oder eine Zeichnung erst im Einzelbild aufgenommen und die Kamera dann gestoppt wird, um im Bild etwas verändern zu können, beispielsweise einen Gesichtsausdruck, um dann ein weiteres Bild zu machen. Die im Fachjargon Stop-Motion genannte Technik kann nahezu alles in Bewegung versetzen. Voraussetzung ist, dass die Abfolge von 24 oder 25 Einzelbildern pro Sekunde eingehalten wird, eben jene Geschwindigkeit, die dem trägen Auge Bewegung vortäuscht.
Nichts ist unmöglich
"In der Welt der Linienwesen ist nur das unmöglich, was man nicht zeichnen kann“, staunte Filmtheoretiker Béla Balázs einst über die ersten Zeichentrickfilme, zu deren Pionieren auch der französische Karikaturist Emile Cohl gehört. In seinem Kurzfilm Fantasmagorie (1908) agierten weiße Strichmännchen pantomimisch vor schwarzem Hintergrund. Neben solchen Zeichnern/innen experimentierte vor allem die künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts mit den Möglichkeiten des Animationsfilms. "Obwohl die Formen gegenstandslos sind (…) scheinen sie Konflikte und Krisen, amouröse Beziehungen und abenteuerliche Verwandlungen aufzuführen", beschreibt die Historikerin Birgit Hein 1978 einen von Walter Ruttmanns Opus-Filmen. Rhythmen, ausgehend von der Figur des Quadrats, standen im Zentrum von Hans Richters Arbeiten (Rhythmus 21, 1921) und in denen Oskar Fischingers, der gezeichnete Striche und halbrunde Linien im Einklang zur Musik animierte (Studie Nr. 5, 1930).
Zeichnungen, Scherenschnitte und Puppen auf Zelluloid
Bald lebten nicht nur Zeichnungen auf Zelluloid, sondern auch Scherenschnitte, Puppen, Knet- und Flachfiguren. Zeitlos erscheinen Lotte Reinigers zauberhafte Silhouettenfilme, die in den 1930er- und 40er-Jahren in der Werbung und im Beiprogramm liefen. Ihre filigranen Figuren wurden aus Pappe ausgeschnitten, mit kleinen Drahtgelenken versehen und dann bewegt. Inspiration für Tiere, Fabelwesen, Geister und prächtige Kulissen fand sie in den orientalischen Märchen, um mit ihnen ihre ironisch schillernden Geschichten voller Lebensweisheit auszustatten. Ihr kunstvollstes

Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen
Werk
Die Abenteuer des Prinzen Achmed (Deutschland 1926) gilt mit 66 Minuten Laufzeit als erster langer Animationsfilm weltweit. Tierfabeln wie der Puppentrickfilm
Le roman de renard (Frankreich, 1930), den er gemeinsam mit seiner Frau Irene realisierte, machten den Polen Wladislaw Starewitsch international bekannt. In den 1950er-Jahren erfreuten sich in Deutschland die
Mecki-Kinderfilme von Hermann Diehl großer Beliebtheit, die in den Kino-Wochenschauen mit humorvollen Werbespots für mehr Rücksicht und Toleranz warben. In den ehemaligen Ostblockstaaten prominent war
Lolek und Bolek (Bolek i Lolek), eine Comicserie des Zeichners Alfred Ledwig, die durch die Trickfilmadaption unter der Regie von Władysław Nehrebecki in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren zu Berühmtheit gelangte. Wie die beiden tierischen Helden der sowjetischen Fernsehserie
Hase und Wolf von Wjatscheslaw Michailowitsch Kotjonotschkin (UdSSR 1969-1986) erfreuten sich auch die polnischen Brüder vor allem in der ehemaligen DDR größter Beliebtheit. Die Ästhetik des Puppentricks erfährt heute übrigens in rein computer-animierten Produktionen eine Renaissance; die animierten Knethelden Wallace und Gromit (
Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen,
Wallace & Gromit in The Curse of the Were-Rabbit, Steve Box, Nick Park, England, USA 2005) dürften die namhaftesten Vertreter sein. Die Figuren wurden aus Plastilin und auf Drahtgestellen modelliert und für einen einzigen Film in etwa 115.000 Einzelbildern im Stop-Motion-Verfahren abgelichtet. Die Arbeit an einer einzigen Mundbewegung konnte einen ganzen Tag in Anspruch nehmen!
Medienimperium Disney
Bis in die frühen 1930er-Jahre waren Animationsfilme überwiegend als kurze Werbe- und Vorfilme im Kino zu bestaunen. Durch die stetige technische Entwicklung und die steigende Nachfrage entstanden im Laufe der 1930er- und 40er-Jahre weltweit die ersten Trickfilm-Studios, die dann auch längere und aufwendigere Filme produzierten. Doch erst Walt Disney gelang es, den animierten Film endgültig vom Image des Beiprogramms zu befreien. Mit dem Aufbau eines riesigen Medienimperiums setzte er jahrzehntelang Maßstäbe –

Bambi
nicht zuletzt, weil sich aufgrund des technischen Aufwands und der daraus resultierenden hohen Produktionskosten schließlich nur wenige Firmen gegen Disney behaupten konnten. Mit sensationellem kommerziellem Erfolg etablierte er in der Tonfilm-Ära mit der Märchenadaption
Schneewittchen und die sieben Zwerge (
Snow White and the Seven Dwarfs, David Hand, USA 1937) den Zeichentrickfilm als abendfüllende Unterhaltung. Seine Filme zeichnen sich durch einen fotografischen "Hyperrealismus" aus: Die Figuren sind, auch wenn es sich wie in
Bambi (David Hand, USA 1942) um Tiere handelt, stets nach menschlichem Vorbild gestaltet. Disneys Familienfilme mit ihren einfach gestrickten Handlungen und qualitativ herausragenden aber oft verniedlichten Animationen (und sprechenden Tieren) machten als erfolgreiches Konzept Schule. Bis heute Zeit zielen – mit Ausnahmen – europäische und US-amerikanische Zeichentrickfilme hauptsächlich auf ein jüngeres Publikum (und dessen Familien) ab, kindgerechte Inhalte, Umsetzung und Genres stehen im Vordergrund.
Breites Themenspektrum der Animes
Neben den USA entstand in Asien und vor dort allem in Japan eine vergleichsweise große Animationsfilm-Industrie (etwa 80 Milliarden Jahresumsatz),

Das Schloss im Himmel
wobei die japanischen Animes ein breit gefächertes Themenspektrum für alle Altersstufen abdecken, das von Literaturverfilmungen über Horror bis hin zu Science Fiction und sogar Pornografie reicht. In der Frage nach dem zulässigen Maß zeigen die Animes besonders in der Darstellung von Gewalt und Sexualität weit weniger Tabus und unterliegen im Westen deshalb oft der Zensur. Die Animationskunst hat in Asien viele Künstler/innen hervorgebracht, vor allem der japanische Altmeister Hayao Miyazaki (
Das Schloss im Himmel,
Tenkû no shiro Rapyuta, Japan 1986;
Chihiros Reise ins Zauberland,
Sen to Chihiro no kamikakushi, Japan 2001) ist mit seinen Anspielungen auf zentrale Probleme moderner Gesellschaften auch in Europa bekannt geworden.
Boom durch Computeranimationen
Weiter popularisiert wurde der Animationsfilm durch den Einsatz der Computeranimation (Computer Generated Imagery - CGI) Mitte der 1990er-Jahre. Kamen bei einem Disney-Film wie
Das Dschungelbuch (
The Jungle Book, Wolfgang Reitherman, USA 1967) noch Xerox-Kopierer zum Einsatz, um Zeichnungen massenhaft zu vervielfachen, werden sie heute am Computer hergestellt – mit massiven Einspareffekten. Mussten bei herkömmlichen Verfahren zweidimensionale Vorlagen oder dreidimensionale Objekte jeweils in Einzelschritten manipuliert werden, profitiert die 2D- und 3D-Animation von der Digitalisierung. In
Toy Story (John Lasseter, USA 1995), dem ersten komplett im 3D-Verfahren generierten

Toy Story
Kinofilm der Pixar Animation Studios, sind die Hauptrollen mit "lebendigem Spielzeug" besetzt. Die perfekte Tricktechnik von Pixar, das zusammen mit Dreamworks mittlerweile zu den renommiertesten Animationsstudios zählt, entwickelt hier einen beeindruckenden Realismus. Voraussetzung war allerdings ein erheblicher Arbeitsaufwand: Für jedes Einzelbild musste eine Rechenzeit zwischen zwei und 20 Stunden aufgewendet werden – pro Woche konnten so etwa dreieinhalb Filmminuten erstellt werden. Bald gehörte die Anwendung von CGI im Filmgeschäft zum Alltag und hat in bestimmten Bereichen wie dem Modellbau herkömmliche Verfahren fast vollständig ersetzt. Sie erlaubt spektakuläre Architektur-Rekonstruktionen wie in Ridley Scotts
Gladiator (England, USA 2000) und Spezial-Effekte wie sie die Brüder Wachowski 1999 in dem US-amerikanischen Science-Fiction-Film
Matrix (USA 1999) entwickelten, um Pistolenkugeln im Flug aus verschiedenen Blickwinkeln zu zeigen.
Eine neue Breitenwirkung
Durch die vielfältigen technischen Möglichkeiten und die zum Teil verbilligten Herstellungskosten (beispielsweise werden manche Produktionen oder Produktionsschritte ins kostengünstigere China verlagert) erfährt der Animationsfilm derzeit viele kreative Impulse und eine neue Breitenwirkung in unterschiedlichsten Zielgruppen. Viele US-amerikanische Studios setzen weiterhin auf Kassenerfolge mit aufwendig produzierten 3D- Familienfilmen.
Madagascar 2,
Shrek der Dritte (Chris Miller, Raman Hui, USA 2007) oder
WALL•E - Der letzte räumt die Erde auf (
WALL•E, Andrew Stanton, USA 2008) versuchen durch

Der Mondbär - Das grosse Kinoabenteuer
herausragende Effekte und thematische Vielfalt Jüngere wie Ältere gleichermaßen anzusprechen. Darüber hinaus gibt es ein weites Spektrum an künstlerisch sehr unterschiedlichen Animationsfilmen: Klassische 2D-Animationen für ein kindliches Publikum wie
Die drei Räuber (Hayo Freitag, Deutschland 2007) oder
Der Mondbär - Das grosse Kinoabenteuer (Thomas Bodenstein, Mike Maurus, Deutschland 2008); innovative Produktionen wie
Waltz with Bashir (Ari Folman, Italien, Deutschland, Frankreich, USA 2008) oder
Persepolis (Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud, Frankreich, USA 2007), die in Design, Inhalt und narrativer Struktur von der Konfektionsware abweichen und trotzdem ein Publikum finden. Im virtuellen Zeitalter steht die Animation, die soviel älter ist als die Kinematografie, vor spannenden Herausforderungen. Angesichts der rasanten Entwicklung von 3D-Visualisierungstechniken und Computergrafiken stimmt es optimistisch, dass der Animationsfilm nicht zur reinen Massenware degradiert wird, sondern sich auch verstärkt seiner künstlerischen Wurzeln erinnert.
Autor/in: Susanne Gupta, Publizistin mit den Schwerpunkten Film und Kultur, 26.11.2008
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