Zögerlich befreien sich die ersten Bilder in Sebastian Schippers "Victoria" aus einem Kokon aus Licht, Sound, Trockeneisschwaden und unscharfen Silhouetten. Langsam erwacht der Film zum Leben, aber sein Herz schlägt bereits auf Hochtouren. Es ist ein pumpender Bass, in dessen Rhythmus sich im Halbdunkel eines Clubs schemenhafte Körper selbstvergessen verlieren. Aus dem Schutz der euphorischen Menge löst sich nach einigen Minuten eine junge Frau, als würde sie in diesem Moment zu Bewusstsein kommen. Leicht verunsichert bahnt sie sich den Weg zur Bar, versucht in gebrochenem Englisch mit dem Barkeeper zu flirten, bewegt sich mit ihrem Wodka in Richtung Toiletten, wird dort schroff ans Ende der Schlange verwiesen und findet sich schließlich an der Garderobe wieder. Die Kamera heftet sich intuitiv an ihre Fersen und schon nach wenigen Minuten im Gewimmel der feiernden Masse verliert die lange Zum Inhalt: Plansequenz ihre stilistische Prägnanz: Die Bewegungen der jungen Frau werden eins mit denen des Films, als sie – im Schlepptau eine Gruppe angetrunkener, pöbelnder Jungen – die schmalen Stufen zum Ausgang des Clubs hinaufsteigt.

Orientierungslos durch die Nacht

Die Orientierungslosigkeit dieser fulminanten Zum Inhalt: Eröffnungssequenz ist programmatisch für Sebastian Schippers Film, der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste Kamera ausgezeichnet wurde. Schipper und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen haben "Victoria" in einer fortlaufenden 140-minütigen Einstellung gedreht: Erzählte Zeit und Erzählzeit sind identisch in einer anfänglich unschuldigen, zu fortschreitender Stunde aber zunehmend gefährlicheren Reise in die Nacht, an deren Ende sich das Leben der Protagonistin und Titelheldin für immer verändert hat. Als Victoria am Anfang an die Berliner Nachtluft tritt, ist ihre Party eigentlich schon vorbei. Für Sonne, Boxer, Blinker und Fuß fängt sie dagegen gerade erst an. Sie wollen Fuß’ Geburtstag feiern und die junge Spanierin scheint eine leichte Beute. Übermütig belagern die spätpubertären Mittzwanziger Victoria, um sie zum Mitfeiern zu überreden. Eine Mischung aus Neugier, Verlorenheit und Langeweile verleitet sie schließlich dazu, mit den Jungs zu fliehen, als deren Versuch, sich ein Auto „zu leihen“, fehlschlägt. Vor allem aber lockt Victoria das großspurige Versprechen Sonnes, dessen straßenschlauer Charme sie augenblicklich fasziniert: "Wir zeigen dir unsere Welt!"

Blick auf die Stadt

Victoria (© Senator)

Die Welt von Sonne, Boxer, Blinker und Fuß umfasst nur ein paar Straßenzüge, aber die Jungen reklamieren ihr Territorium für sich mit dem Selbstverständnis alter Hasen, die ihre Straßen von klein auf kennen, für sich. Sie seien "echte Berliner" und darum versprechen sie der Neu-Berlinerin Victoria eine Perspektive, die "Zugezogene" niemals haben werden. Von den Dächern über der Stadt zum Beispiel, wo Sonne und die Jungs nachts herumhängen und kiffen. Victoria, die nach der Ablehnung am Musikkonservatorium in Berlin gestrandet ist und nun für vier Euro die Stunde in einem Café arbeitet, erlebt die ziellose Unbeschwertheit der Gruppe, die Sonne seine Familie nennt, als spontanes Freiheitsgefühl. Ihr kurzer Schritt an den Rand des Hochhausdaches rückt die Leichtigkeit des Moments in ein sinnfälliges Bild.

Alles befindet sich im Fluss

Dieses Freiheitsgefühl greift auch Kameramann Grøvlen als unsichtbares sechstes Mitglied der Gruppe auf, er ist der subjektive Vermittler einer kollektiven Erfahrung. Die praktischen Beschränkungen eines solchen Drehs in einer fließenden Einstellung machen dabei die Qualität des Films aus. In der Logik der Echtzeit fallen besonders die ruhigen Momente zwischen den Figuren, der natürliche Leerlauf im alltäglichen Miteinander, der in vielen Filmen einer dynamischen Zum Inhalt: Montage zum Opfer fällt, umso stärker ins Gewicht. Die entfesselte Zum Inhalt: Handkamera steht im aktuellen Kino zumeist als Synonym für eine gesteigerte Authentizität, die durch das Fehlen des Schnitts soagr noch intensiviert wird. Die Kamera erkundet in ihrer unaufdringlichen Mobilität zwischen Zum Inhalt: Halbtotalen und Zum Inhalt: Close-ups die Gruppendynamik zwischen Sonne, seinen Kumpels und Victoria. Besonders schön zeigt sich dieses Gespür in der Zum Inhalt: Szene im Café, in der Victoria Sonne auf dem Klavier Liszts "Mephisto Walzer" vorspielt und ihm von ihren geplatzten Träumen als Konzertpianistin erzählt. Für einige Minuten kommt die Kamera fast zur Ruhe. Diskret schweift sie zwischen Sonne und Victoria hin und her und macht sich Sonnes sanften Blick zu eigen, der wie verzaubert ihrem Spiel lauscht.

Victoria, Trailer (© Senator)

Naturalismus vs Genre

An diesem Punkt verwandelt sich "Victoria" in eine Zum Inhalt: Genre-Erzählung, die sich in der kriminellen Vergangenheit von Boxer bereits ankündigte. Boxer ist einem Gangsterboss einen Gefallen schuldig und soll eine Bank überfallen, um seine Schulden zu begleichen. Der ungezwungene Realismus der ersten achtzig Minuten weicht nach diesem Bruch den Konventionen des Thrillers. Auch die Kamera agiert nun zweckdienlicher, handlungsorientierter. Zwar orientiert sich ihre Mobilität weiter am Tempo der Protagonisten, doch deren Wege durch die Nacht sind nicht mehr selbstbestimmt: Ihr zielloses Driften verwandelt sich in eine panische Fluchtbewegung. Ganz am Schluss findet die Echtzeiterzählung noch einmal zu ihrem wahrhaften Kern zurück. Als Victoria nach der 140-minütigen Tour de Force schließlich vor emotionaler und körperlicher Erschöpfung weinend zusammenbricht, ist schwer zu sagen, ob die Zuschauenden mit der Filmfigur oder der Schauspielerin mitfiebern.

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