Jahrelang war die Stadt für den deutschen Film kaum mehr als eine Kulisse, vor der sich Beziehungskomödien abspielten. Sie hätten auch in jeder anderen Kulisse so stattfinden können, denn das Kino der Bundesrepublik hat sich nicht für soziale Orte interessiert. Selbst im etwas überschätzten Bundesfilmpreisträger
Lola rennt ist der Schauplatz zwar Berlin, doch zwischen diesem Schauplatz und den Filmfiguren existieren keine Wechselwirkungen. Die Lust an der folgenlosen Unterhaltung ihres Publikums trübte den Filmemachern den Blick für Realitäten. Jetzt, da das Publikum der Unterhaltung müde wird, bekommt die Wirklichkeit vor dem Kameraobjektiv wieder Konturen.
So ist die Hauptstadt Berlin die eigentliche Hauptdarstellerin in Andreas Dresens
Nachtgestalten. Kein Hochglanz-Berlin, sondern das Berlin der Schmuddel-Szene, wo die Randfiguren von Boomtown leben, die ohne Karriere-Glück, vielleicht sogar ohne Karriere-Chance sind. Nacht und Regen am Hardenbergplatz. Der Bahnhof Zoo ist eine düstere Höhle. Dort döst ein Mädchen, obdachlos. Und als es die Augen aufschlägt, hat es einen Hunderter im Hut. Ein Wunder? Könnte sein, denn der Papst fliegt über der Stadt. Die deutsche Filmkomödie hätte nach diesem Auftakt den Hunderter angelegt für Wirrungen und Happy End. Andreas Dresen setzt Reisen durch Illusionen in die Ernüchterung in Gang. Es sind Reisen im Plural, denn
Nachtgestalten erzählt nicht nur eine, sondern viele Geschichten. Der Episodenfilm ist der Stadt mit ihren ungezählten Schicksalen und mit ihrer Anonymität angemessen. Drei Episoden, einander überschneidend, aber nicht ineinander fließend, bilden die Haupthandlung. Hanna, das Mädchen mit dem Hunderter, beginnt mit ihrem Freund eine Irrfahrt zu einem Hotelzimmer. Einmal wenigstens wollen sie trocken und warm miteinander kuscheln, doch ihr Schlaf ist zuletzt ohne Bewusstsein. Jochen kommt vom Land – voller Sehnsucht nach dem Abenteuer Großstadt. Er landet auf dem Babystrich, ist bald ohne Geld, dafür voller blauer Flecken. Und Peschke, der Angestellte, so stolz auf Handy und Auto, fängt sich am Flughafen einen "Negerbengel" aus Angola ein. Zwischen den beiden entwickelt sich beinahe eine humane Liebesgeschichte. Aber am Ende hat auch Peschke sein Geld verloren, das Auto ist geklaut. Mit dem Geschäftswagen machen sich Punker einen schönen Morgen am Strand.
"Ich glaube, dass es ein großes Bedürfnis danach gibt, etwas von der eigenen Wirklichkeit auf der Leinwand wiederzufinden ... und spüre auch hier zu Lande eine Tendenz, andere Geschichten zu erzählen, mit einer anderen Ästhetik." (Andreas Dresen)
Night in the city –
Night on Earth. Der Film vom Jim Jarmusch gehört gewiss zu den Vorbildern von Andreas Dresen. Der unspektakuläre Stil von Jarmusch mag Dresen beeinflusst haben. Er erzählt seine Geschichten wie nebenbei, die Kamera meist in Augenhöhe oder in der Froschperspektive. Denn der Blick von unten ist die Sicht, die seine Protagonisten auf die Welt haben. Aber nie erzählt er mit Sozialarbeiter-Attitüde. Das Drehbuch kennt den Witz noch im Schmerz. Der trockene Humor ist der soziale Rettungsring des Personals.
Nachtgestalten ist ein Dialog-Film, wobei zum Dialog auch die Pausen gehören, das Schweigen, das immer wieder zwischen die Figuren tritt. Diese sind aus den Beobachtungen der Realität verdichtet und nie eindimensional. Victor, der Freund von Hanna, schlägt das Mädchen in einer Szene brutal zusammen, aber der Zuschauer kann sich nicht in moralischer Überlegenheit von ihm distanzieren. Er weiß, dass der Junge aus Hilflosigkeit so agiert, aus Verzweiflung, dass in seinen Schlägen sogar Zärtlichkeit liegt. Oder Patty, die Stricherin auf Drogen, die sich eben nicht sozialromantisch aus dem Milieu retten lässt, die dafür sorgt, dass der Freier Jochen rücksichtslos verprügelt wird, die ihm das Geld klaut – und die doch in einer sozialen Regung ein paar Scheine wieder zurückschiebt. Oder Peschke, der zunächst selbstverständlich der alltägliche Rassist ist, bevor er sein Herz für das schwarze Kind entdeckt. Peschke wird von Michael Gwisdek gespielt, der genau das kann, was manche anderen Hauptdarsteller in
Nachtgestalten nicht beherrschen: auch der Sprache ein spontanes Nebenbei zu geben, sich in die Rolle nur zu schlenkern und sie nicht auszufüllen. Dominique Horwitz als Victor oder Meriam Abbas als Hanna dagegen liegen zwar mit ihrem Spiel auf den Typen, bekommen aber den Duktus der Schauspielschulen nie aus ihren Stimmen.
Aber das ist Beckmesserei an diesem Film, der mitten in der Wirklichkeit landet, ganz ohne Politappell, dafür mit Geschichten, die den Zuschauer anrühren und wach machen für das, was ihm auf den nächtlichen Straßen der Großstädte begegnet. Er lernt Menschen kennen und kein statistisches Material für die Sozialreferate. Es sind Menschen noch in den Nebenfiguren wie einem Taxifahrer (sympathisch trotz seiner faschistoiden Sprüche) oder einem Polizisten, die wie Kitt die Episoden zusammenbinden, weil sie es mit den unterschiedlichen Protagonisten zu tun bekommen.
Nachtgestalten ist ein Berlin-Film. Er könnte nirgendwo anders spielen, als in der Hauptstadt, die so sehr leuchten will, dass sie tief nächtliche Schatten über viele ihrer Einwohner wirft.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 09.08.1999