Anfang der 1990er-Jahre ist die Aids-Epidemie in Frankreich auf dem Höhepunkt. Die Zahl der Todesfälle steigt weiter, die Betroffenen fühlen sich stigmatisiert und vom Staat im Stich gelassen. Nach dem Vorbild der New Yorker Bewegung "Act Up" will auch die gleichnamige Pariser Gruppe mit kreativen Protestaktionen aufklären und empören. Nicht selten setzen die Aktivistinnen und Aktivisten dabei gezielt den eigenen Körper ein – denn um diesen geht es ihnen. Die meisten sind selbst HIV-positiv und kämpfen wütend für die Entwicklung wirksamer Medikamente, eine bezahlbare Gesundheitsversorgung und Präventionsmaßnahmen. Sean, Gründungsmitglied von "Act Up Paris", will sich unter dem Eindruck des nahenden Todes nicht die Lust aufs Leben nehmen lassen. Mit Nathan, einem der wenigen HIV-negativen Aktivisten, führt er eine glückliche Liebesbeziehung – bis sich sein Zustand dramatisch verschlechtert.
Für seinen Spielfilm
120 BPM wurde Robin Campillo auf dem Filmfestival von Cannes 2017 gleich mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Der Regisseur und
Drehbuchautor war seinerzeit selbst bei "Act Up" aktiv, porträtiert in seinem Film aber nicht reale Personen (wie in einem
Biopic), sondern zeichnet im Sinne eines
Period Picture das damalige Lebensgefühl der Betroffenen und den starken Gemeinschaftssinn der Bewegung nach. Einen großen Raum nehmen die kontroversen Diskussionen, die Demonstrationen und Happenings sowie daran anschließende Club-Nächte ein; den passenden
Soundtrack liefern zeitgenössische Szene-Hits wie "Smalltown Boy" von Bronski Beat. Dem anti-hierarchischen Gestus der Gruppe versucht Campillo aber auch in der
Mise-en-Scène gerecht zu werden: Mehrfach setzt er die Proteste in ornamentale
Bildkompositionen, etwa wenn sogenannte
Die-ins (kollektives Sich-tot-Stellen) aus der
Vogelperspektive gefilmt werden.
120 BPM ruft die Aids-Krise der späten 1980er- und frühen 90er-Jahre lebendig in Erinnerung. Im Ethik- und Sozialkundeunterricht sollten der Bewusstseinswandel und die politischen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise diskutiert werden. Im 21. Jahrhundert kann die Epidemie vielen Jugendlichen in Westeuropa vor allem als Problem von Entwicklungsländern erscheinen. Dennoch zeigen Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dass in Deutschland das Bewusstsein für die Krankheit relativ groß ist: 2016 gaben 94 Prozent der Befragten im Alter von 16 bis 20 an, das Thema HIV aus dem Unterricht zu kennen; 76 Prozent von ihnen benutzen immer oder regelmäßig Kondome – ein neuer Höchstwert. Sowohl das Bewusstsein für die Krankheit als auch die bessere medizinische Versorgung sind wesentlich dem Engagement von Gruppen wie "Act Up" zuzuschreiben. Deren symbolstarke Protestformen, etwa das
Reclaiming des Homosexuellen-Kennzeichens (rosa Dreieck) aus den Konzentrationslagern, können am Beispiel des Films genauer untersucht werden. Die würdigende, teils stilistisch überhöhte Form, mit der Campillo auf den Aktivismus jener Tage blickt, sollten die Schüler/-innen (im Plenum oder in Gruppenarbeit) filmanalytisch herausarbeiten.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann, 23.11.2017
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