Interview
"Ich habe versucht, diese Jugendlichen kennen zu lernen"
Ein Gespräch mit Laurent Cantet, dem Regisseur von Die Klasse.
Laurent Cantet, geboren 1961 im französischen Melle als Sohn eines Lehrerpaares, ist Regieabsolvent des renommierten Pariser Institut des Hautes Études Cinématographiques (IDHEC). Nach mehreren Kurz- und Fernsehfilmen drehte er 1999 seinen ersten langen Kinofilm
Ressources Humaines, der mit dem César als bestes Erstlingswerk geehrt wurde. Auch seine nächsten Regiearbeiten
Auszeit (
L'emploi du temps, Frankreich 2001) und
In den Süden (
Vers le sud, Frankreich 2005) wurden auf zahlreichen Festivals ausgezeichnet.
Die Klasse, sein fünfter Spielfilm, erhielt unter anderem die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele Cannes 2008. Außerdem wurde er von Frankreich für eine Nominierung als Bester fremdsprachiger Film bei der Oscarverleihung 2009 vorgeschlagen.
Monsieur Cantet, Ihr Protagonist François ist ja geradezu ein Musterlehrer. Wollten Sie bewusst ein positives Bild eines Berufsstandes zeichnen, der häufig gegen ein eher negatives Image anzukämpfen hat?
Meiner Meinung nach fordert man den Lehrern einfach zuviel ab. Natürlich hat die Schule auch die Aufgabe, die Kinder zu sozialisieren, vielleicht sogar sie zu domestizieren, aber dabei darf man die Lehrer nicht alleine lassen. François ist ganz bewusst kein Vorzeigelehrer, ganz im Gegenteil: Er macht Fehler, und genau diese lösen am Ende auch die Krise aus. Ich wollte ihn als einen Menschen zeigen, der das Risiko eingeht, seine Schüler an die Hand zu nehmen und sie zu ermutigen, über die konventionellen Wissenspfade hinaus zu denken. Ich teile nicht die Ansicht, dass Schule nur dazu da ist, den vorgeschriebenen Lernstoff zu vermitteln. Meines Erachtens geht das heute nicht mehr, dafür haben die Kinder zu viele Sorgen und Probleme.
François geht auf die Schülerinnen und Schüler ein, er nimmt sie ernst, gerät aber auch an seine menschlichen und pädagogischen Grenzen– mit fatalen Folgen. Warum musste am Ende Souleymane die Schule verlassen?
François ist ein Idealist, der mit den Jugendlichen auf Augenhöhe kommunizieren möchte. Aber er agiert in einem starren Schulsystem und wird immer mehr genötigt, seine Ideale zurückzustecken. Wir sehen am Ende – und das ist das fiktionale Moment dieses Filmes – einen enttäuschten Idealisten. Mich hat in diesem Zusammenhang vor allem der Mikrokosmos "Klasse" interessiert. Der Lehrer ist die ganze Zeit über Hunderten von Fragen und Problemen ausgesetzt. Alle tragen das ihre dazu bei, dass diese Gruppe bestehen und miteinander arbeiten kann. Bis dann Souleymane den Mikrokosmos aus den Fugen geraten lässt. Der Junge macht eigentlich nur viele kleine Übertretungen, die sich aber akkumulieren. Auf Dauer geht das nicht gut, deshalb schließt das System Souleymane am Ende aus.
Der Film wirkt dank der Laiendarsteller und seiner authentischen Dialoge sehr dokumentarisch. Was sprach für eine solche Ästhetik?
Ich suche in allen meinen Filmen nach Wirklichkeitsnähe. In diesem Fall resultiert der dokumentarische Charakter auch daraus, dass wir mit drei Kameras gearbeitet haben und ich meinen Darstellern sehr viele Freiheiten gelassen habe. Aber wir sind auch Opfer unserer Sehgewohnheiten und die dokumentarische Ästhetik täuscht darüber hinweg, dass die Ereignisse in einer Szene das Resultat einer intensiven, langen Arbeit sind.
Sie haben den Jugendlichen weitgehend die Dialoge vorgegeben, es wurde aber auch viel improvisiert. Inwiefern hat sich dadurch Ihre Rolle als Regisseur verändert, entstand der Film letztlich am Schneidetisch?
Das würde ich so nicht sagen, ich habe mich schon stark eingebracht als Regisseur. Zunächst einmal gab es ein sehr detailliertes Drehbuch, das sich auch im Film widerspiegelt. Ein ganzes Jahr lang habe ich mich mit den Darstellern jeden Mittwoch zu einem Workshop getroffen, um Szenen gemeinsam zu erschaffen. Ich habe versucht, diese Jugendlichen kennen zu lernen, wollte sie motivieren, über ihre Grenzen hinauszugehen. Bei den Dreharbeiten war ich keineswegs nur ein Beobachter. Ich habe mit den Jugendlichen besprochen, was sie sagen, wie sie aufeinander reagieren sollen. Dann haben wir improvisiert – natürlich aufgrund dessen, was wir vorher schon geübt hatten. Die Schüler haben dabei ihrerseits Szenen mitentwickelt und mir Vorschläge unterbreitet. François Bégaudeau, der Hauptdarsteller, hat sie dabei unterstützt: Als Lehrer wußte er sehr genau, was er ihnen zumuten konnte.
Die Schülerinnen und Schüler ihres Films leben in einem ähnlichen "Problembezirk" wie jene Jugendlichen, die in den vergangenen Jahren an den gewaltvollen sozialen Revolten in der Pariser Banlieue beteiligt waren. Inwiefern gibt Ihr Film eine Antwort darauf?
Wir sollten versuchen, diese Jugendlichen einmal positiver zu betrachten. Mein Film zeigt Kinder, die intelligent sind, die viel zu erzählen haben, Halt und auch ihren Platz in der Welt suchen. Ebendies gestaltet sich für sie jedoch sehr schwierig, denn in Frankreich herrscht ein latenter Rassismus. Das hängt auch damit zusammen, dass die Franzosen ihre traditionelle Kultur sehr hoch bewerten. Ich persönlich habe ein anderes Kulturverständnis: Esmeralda, Wey oder Souleymane tragen auf ihre Art dazu bei, dass sich Kultur jeden Tag aufs Neue erfindet. Diese jungen Menschen müssen sich erwünscht fühlen in unserer Gesellschaft, nur dann werden sie nicht zu "Problemkindern". Genau das versucht ihr Lehrer François: sie ernst zu nehmen.
Autor/in: Kirsten Liese, Publizistin mit den Schwerpunkten Film und Musik, 11.12.2008
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