Kategorie: Filmbesprechung
"Orphea in Love"
Alex Ranischs eigenwillig-poetischer Opernfilm versetzt den Orpheus-Mythos in die Gegenwart - und vertauscht die Geschlechterrollen.
Unterrichtsfächer
Thema
Wenn Nele singt, erstrahlt das triste Callcenter auf einmal in goldenem Licht. Die Kolleg/-innen springen von ihren Bürostühlen und begleiten sie im Chor. Und sogar im Gesicht der fiesen Chefin breitet sich ein Lächeln aus. Doch genauso abrupt endet Neles Tagtraum und unter kalten Leuchtröhren muss sie den nächsten Anruf entgegennehmen.
In Estland aufgewachsen, hat Nele Opern-Gesang studiert. Aber eine Musikkarriere hat sich nie ergeben. Jetzt lebt sie zurückgezogen in einer deutschen Großstadt in einem kleinen WG-Zimmer und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Abends, als Garderobiere am Opernhaus, schleicht sie sich heimlich in die Aufführungen: Die Musik bietet ihr Zuflucht. Dann trifft Nele auf Kolya, einen kleinkriminellen Straßentänzer. Auch er ist einsam: ein Findling, der mit seiner lieblosen Ziehmutter auf einem brachliegenden Eisenbahngelände haust. Und er ist stumm, der Tanz seine einzige Sprache. Obwohl ihre erste flüchtige Begegnung damit endet, dass Kolya mit Neles Geldbörse davonrennt, lässt sie keinen von beiden wieder los. Auf ihrer Suche nacheinander wird die anonyme Stadt zu ihrer Kulisse. Doch als sich die Zwei wiederfinden, stirbt Kolya bei einem Autounfall. Um ihren Geliebten zu retten, folgt ihm Nele in die Unterwelt. Dort muss sie sich einem dunklen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit stellen.
Orphea aus dem Callcenter
Die griechische Sage von Orpheus und Eurydike wurde im Kino schon oft zitiert, reinterpretiert und persifliert: Jean Cocteau reinkarnierte mit "Orpheus" ("Orphée" , FR 1950) den Sagenhelden als Dichter im Nachkriegs-Paris, dessen Reise durch die Hölle auf das unverarbeitete Trauma des Zweiten Weltkriegs anspielt. Ein Jahrzehnt später ließ Marcel Camus seinen "Orfeu Negro" (BR/IT/FR 1959) durch das entgrenzte Chaos des brasilianischen Karnevals taumeln. Und als zentrale symbolische Referenz in Céline Sciammas Zum Filmarchiv: "Porträt einer jungen Frau in Flammen" ("Portrait de la jeune fille en feu" , FR 2019) erhielt der Mythos eine queere, feministische Neuauslegung.
Auch Axel Ranischs traumwandlerisch-fantasievoller Opernfilm verwandelt den zeitlosen Mythos in einen höchst gegenwärtigen Stoff – nicht nur, weil die umgekehrten Geschlechterrollen Neles Orphea zur Hauptfigur und aktiven Retterin machen. Nele ist eine Schwärmerin in Zeiten der Gig-Economy, wo Quote wichtiger ist als Kunst; über die Unterwelt herrscht der skrupellose Musikagent Höllbach, ein schmieriger Typ mit Türsteheranzug und Gesichts-Tattoos. Seine Geliebte ist die Operndiva Adela. Als sie bei einem Auftritt die Stimme verliert, singt Nele im Zuschauerraum ihre Arie zu Ende. Höllbach erkennt ihr Talent und bietet Nele einen Tausch an: Wenn sie ihre Stimme Adela vermacht, darf sie ihren toten Geliebten zurück holen.
Eine musikalische Achterbahnfahrt
Regisseur Axel Ranisch, der sich selbst als "Klassik-Nerd" bezeichnet, ist bekannt für sein eklektisches künstlerisches Portfolio, das neben No-Budget- Zum Inhalt: Komödien, "Löwenzahn" -Folgen oder auch einem Zum Inhalt: Coming-of-Age-Film über einen Schlagerkönig ("Ich fühl mich Disco" , DE 2013) mehrere Inszenierungen für die Bayerische Staatsoper umfasst.
Mit der gleichen Vielseitigkeit verbindet Ranisch nun Kino und Musik: "Orphea in Love" ist keine Zum Inhalt: Filmadaption einer Orpheus-Oper, sondern eine wilde musikalische Kollage – ein Jukebox- Zum Inhalt: Musical, das sich mit einer ganz eigenen Poesie zwischen Hochkultur und Trash und quer durch die Jahrhunderte bewegt. Neben Auszügen aus bekannten Orpheus-Adaptionen der Komponisten Claudio Monteverdi und Christoph Willibald Gluck finden sich Arien von Giacomo Puccini, Giuseppe Verdi oder Richard Wagner, zeitgenössische Orchesterstücke und sogar eine poppige Gospel-Einlage. Ranisch arbeitete dafür erneut mit der Bayerischen Staatsoper zusammen, deren Sopranistin Mirjam Mesak auch die Hauptfigur mit großer Natürlichkeit spielt. Sowohl für sie als auch für Ballett-Tänzer Guido Badalamenti in der Rolle des Kolya ist es der erste Auftritt in einem Zum Inhalt: Spielfilm.
Traum oder Wirklichkeit?
Wie in der antiken Sage zerfließen in "Orphea in Love" die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Oft ist unklar, ob Nele wacht oder träumt. Durch seine Zum Inhalt: Inszenierung, die mit Zum Inhalt: Kameraperspektiven und Zum Inhalt: -fahrten, Schärfeverlagerungen (Glossar: Zum Inhalt: Tiefenschärfe/Schärfentiefe), vor allem aber mit Zum Inhalt: Licht und Zum Inhalt: Farben spielt, verzaubert Ranisch die alltäglichen Schauplätze der Stadt (Glossar: Zum Inhalt: Drehort/Set) in grandiose Opern-Kulissen. Wenn die Zum Inhalt: Musik einsetzt und die Hauptfiguren zu singen oder zu tanzen beginnen, verwandeln sie sich von etwas ungelenken Außenseiter/-innen in romantische Held/-innen. Bekanntes und Irreales überlagert sich: Bunt leuchtende Neonröhren machen eine nächtliche Unterführung zu einem geheimnisvollen Portal, das von einer Armee aus Tänzerinnen in glitzernden Masken heimgesucht wird; im blauen Gegenlicht und aus der Vogelperspektive gefilmt, wird eine marode Industrieruine zum Amphitheater.
Dem Sagen-Orpheus gelingt es dank seiner Musik, die Unterwelt zu durchqueren. Mit Leierspiel und Gesang lenkt er erst den Höllenhund Kerberos ab und bezaubert schließlich den Gott Hades. Auch für Nele und Kolya ist die Musik ein Schutzschild: vor einem Alltag, in dem sie sich meist sprachlos und allein fühlen. Bei ihrem ersten Treffen verwickelt Kolya Nele auf dem Gehweg vor dem U-Bahnhof in einen neckenden Tanz. Die Kamera kreist mit schwebenden Bewegungen um die beiden herum, hüllt sie in ihre eigene Blase, während im Hintergrund die Stadt verschwimmt. Durch Tanz und Musik versteht sich das Außenseiterpaar ohne Worte. Aus jeder Zum Inhalt: Szene von "Orphea in Love" sprüht diese Liebe zur Musik als universelles Ausdrucksmittel: Sie lebt nicht nur auf Opernbühnen, sie kann nicht gekauft, instrumentalisiert oder eingesperrt werden. Als eine Art übernatürliche Kraft verzaubert sie jeden vermeintlich öden Alltagsort, jede zufällige Begegnung, wenn man sich nur darauf einlässt.
Weiterführende Links
- External Link Film-Website des Verleihs
- External Link filmportal.de
- External Link Homepage von Axel Ranisch
- External Link Projekt Gutenberg: Sagen aus Griechenland: Orpheus und Eurydike
- External Link br.de: Interview mit Axel Ranisch
- External Link Operavision: Hintergrundartikel zu Opernadaptionen des Orpheus-Mythos
- External Link FilmTipp von Vision Kino