Über einen Zeitraum von vier Jahren hat die Dokumentarfilmregisseurin Susanne Regina Meures die Berliner Influencerin Leonie Balys mit der Kamera begleitet. Zu Beginn des Films ist die Jugendliche 14 Jahre alt und hat mit ihren Kosmetik- und Modetipps bereits eine Gefolgschaft von über einer halben Million Personen auf Instagram und TikTok durch ihre Postings erreicht, so dass ihre Eltern Andreas und Sani sich entschließen, den eigenen Beruf aufzugeben und stattdessen die hochbezahlten Werbeaufträge ihrer Tochter zu managen. Mit der elterlichen Unterstützung gewinnt Leonie weiter an Popularität und Einkünften hinzu. Doch auch negative Dynamiken verstärken sich: Hater-Kommentare und Terminhatz belasten die Jugendliche zusehends und sorgen für Spannungen in der Familie. Sani und Andreas, die vom Erfolg der Tochter profitieren, hält das jedoch nicht davon ab, das Geschäft weiter voranzutreiben.
Als "Influencer" werden Personen bezeichnet, die Firmen aufgrund ihrer großen Reichweite in sozialen Netzwerken als Meinungsbildner ansehen und sie als mögliche Werbeträger ansprechen. Produkte aller Art werden von den Influencern auf ihren privaten Kanälen online in Szene gesetzt und damit geteilt. Die Unternehmen zielen auf eine möglichst hohe Vermittlung von Authentizität, um bei den Abonnent/-innen, oder auch "Followern", Konsumgüter und Marken in einem vertrauten Rahmen zu propagieren. Girl Gang gewährt einen ungewöhnlich intimen Einblick in das Leben einer Influencerin. Um gleichwohl kritische Distanz zu ermöglichen, wählt Susanne Regina Meures eine im Voice-Over eingesprochene Märchenerzählung im Modus des "Es war einmal" als Rahmung. Das Smartphone wird darin zu einem "schwarzen Spiegel", durch dessen Magie Leonie von vielen anderen Mädchen gesehen werden kann und dadurch Gefühle von Sehnsucht bei ihnen auslöst. Untermalt wird dies musikalisch mit sakralen Gesängen eines Mädchenchors, die im Film wiederholt anklingen, während die Regisseurin Leonie bei ihrer Arbeit und speziell bei ihrem Ringen um Authentizität vor der Kamera einfängt. Der Idol-Status der Influencerin wird besonders in den Szenen anschaulich, die Leonie bei überlaufenen "Meet & Greet"-Terminen mit meist weiblichen Fans in Einkaufszentren zeigen. Viele von ihnen sehen in Leonie ein Vorbild, dem sie sich annähern wollen. Darin unterscheidet sich die Idealisierung von Schwärmereien etwa für Boygroups. Im Film wird dies an Leonies "größtem Fan" Melanie exemplarisch. Zwischen das Material der Familie Balys schneidet Meures immer wieder Selfie-Videos der verzweifelten Followerin, die allein mit ihrer Mutter in einem Dorf fernab der Hauptstadt lebt. Leonie zu folgen, lässt sie vergessen, dass sie im wahren Leben soziale Kontakte schmerzlich vermisst. Bis zu 17 Stunden verbringt sie täglich online mit ihrer Fan-Seite. Die Dimension der Suchtproblematik, die hier im Einzelfall sichtbar wird, vermittelt der Film nüchtern durch Schwarzbilder, in denen Statistiken zur Nutzung sozialer Medien unter Jugendlichen und ihrer Beeinflussung durch Influencer eingeblendet werden.
Die teilnehmende Beobachtung am Familienleben und -unternehmen der Balys umfasst den Großteil der Dokumentation. Dabei steht die akribisch und mit professionellem Equipment verrichtete Arbeit an der Inszenierung eines möglichst authentisch erscheinenden Alltags im Mittelpunkt. Hieran anknüpfend können im medienkundlichen Unterricht Fragen nach der Unterscheidung von sozialer Wirklichkeit und medialer Selbstdarstellung diskutiert werden. Welche Techniken der Aufnahme und Bearbeitung von Bildern setzt Leonie ein und welche Wirkung erzielt sie dadurch bei ihrem Publikum? Wie verändern sich durch die neuen Medien auch Entwicklungsdynamiken bei Heranwachsenden und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern? Im Fach Psychologie könnte die seelische Abhängigkeit problematisiert werden, auf der das Geschäftsmodell der Plattformen basiert und der Influencer wie Follower gleichermaßen unterliegen. Können sich die Hoffnungen der Balys auf Selbstbestimmung und Wohlstand verwirklichen, oder führt die permanente Online-Performance letztlich zu einer spezifischen Form der Unfreiheit?
Arbeitsblatt zu Girl Gang
Fächer: Darstellendes Spiel / Theater, Deutsch, Kunst ab Klasse 9
Vor der Filmsichtung:
a) Beschreibt, was ihr mit dem Symbol des Spiegels assoziiert. Kommentiert, welche (Märchen-)Figuren ihr hiermit verbindet.
Sichert eure Hauptideen stichpunktartig auf dem Smartboard.
b) Bildet Vierergruppen. Gestaltet eine kurze Filmsequenz, in der ihr euch gegenseitig dazu interviewt, wem ihr online folgt. Begründet eure Aussagen.
Binnendifferenzierung - mögliche Interviewfragen:
Nenne eine/-n Influencer/-in, der/dem Du folgst.
Warum folgst du dieser Person?
Was fasziniert dich an diesem Account?
c) Präsentiert und reflektiert anschließend gemeinsam eure Ergebnisse im Plenum.
Während der Filmsichtung:
d) Achtet darauf, was ihr über den Alltag von Leonie und ihren Eltern erfahrt. Haltet eure Ergebnisse unmittelbar nach dem Filmbesuch stichpunktartig fest. Achtet auch auf die Wirkung der Musik und der Einstellungen in Schwarz-Weiß.
Nach dem Filmbesuch:
e) Tauscht euch darüber aus, was euch besonders berührt und/oder überrascht hat. Vergleicht anschließend die Ergebnisse aus Arbeitsschritt c).
f) Erörtert, welche Interessen Leonie, ihre Eltern und Leonies Fan verfolgen.
Kommentiert dazu eines der folgenden Zitate.
"Wenn das alles so easy ist, dann macht das doch einfach selber mal."
(Leo) [Timecode: 01:03:30-37]
oder:
"Wir müssen sie nachher nochmal anpeitschen und dann macht 'se dit schon allet."
(Leonies Mutter) [Timecode: 01:22:10-14]
g) Entwickelt auf Basis dessen in Kleingruppen eine Szene mit folgenden Figuren:
die Eltern – die Influencer/-in – ein Fan
Gestaltet die Szene so, dass die Interessen der einzelnen Parteien deutlich werden.
Binnendifferenzierung / Extrarolle: die Social-Media-Manager/-in
Binnendifferenzierung: Nutzt eine wiederkehrende Mimik, welche die gespielte Figur charakterisiert und integriert sie in eure Szene.
h) Fasst zusammen, welche Hilfsmittel, Technik, Geräte und Apps Leo und ihre Eltern benutzen, um den Content auf ihren Accounts zu erstellen.
Diskutiert, wie dies die Wahrnehmung von Leos Follower/-innen beeinflusst und inwieweit Leonie ihren Alltag authentisch (d.h. "echt") darstellt. Nehmt Bezug auf die Ergebnisse der Arbeitsschritte e)-g).
i) Wählt ein Produkt aus eurer Schultasche aus.
Erstellt ein kurzes Reel, in dem ihr den Gegenstand als Produkt bewerbt.
Präsentiert eure Werbefilme im Plenum.
Beurteilt, wie sich die Reels und Stories von Instagramer/-innen wie Leonie auf das Konsumverhalten von Teenagern auswirken können.
j) Beschreibt und kommentiert die Entwicklung des Fans.
Diskutiert, welche Faktoren sie dazu bewogen haben, ihren Account nicht mehr zu nutzen.
k) Stellt Vermutungen dazu an, warum die Regisseurin den Titel "Girl Gang" für ihren Dokumentarfilm wählte.
Entwerft eigene Ideen für einen Titel zum oben genannten Dokumentarfilm.
l) Nehmt Stellung dazu, ob ihr Leonies Leben als märchenhaft beschreiben und ob ihr euer Leben mit ihrem tauschen würdet. Begründet eure Meinungen nachvollziehbar.
Autor/in: Silvia Bahl (Filmbesprechung), Rieke Rathfelder (Arbeitsblatt), 17.10.2022