Die 17-jährigen Jannik und Tai leben in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Lichtenberg, wo sie an einem Kolleg in Kürze ihr Abitur ablegen wollen. Eines Abends finden die beiden Teenager ihren Schulleiter sturzbetrunken auf einer Parkbank. Nachdem er sich berappelt hat, folgen sie ihm in seine schicke Wohnung über den Dächern der Stadt. Tai kennt sich in dem luxuriösen Hochhaus aus: Mehrfach hat er seinen Vater, der einen Reinigungsservice betreibt, dorthin begleitet. Jetzt nutzt er sein Wissen, um das Smarthome mit wenigen Klicks in ein Gefängnis zu verwandeln. In den kommenden Tagen bleibt der Direktor darin eingesperrt – ohne Kontakt zur Außenwelt, abgesehen von seinen Schülern, die jedoch nur über sein gehacktes Laptop mit ihm kommunizieren und sich nicht zu erkennen geben. Was wie ein übermütiger Spaß beginnt, entwickelt sich zu einem psychologischen Drama. Der Gefangene vollzieht in seiner Verzweiflung einen Seelenstriptease, bei dem er nicht nur seine dysfunktionale Familie thematisiert, sondern ebenso die Hintergründe des Todes einer Schülerin. Auch Tai stellt sich seinen Traumata, etwa der Ohnmacht, die er fühlte, als Skinheads seinen Vater misshandelten, während sich Jannik gegenüber den Eltern als schwul outet.
Axel Ranischs sechsteilige TV-Serie, eine
Adaption seines gleichnamigen Romans (2018), verwebt nicht nur auf originelle Weise
Coming-of-Age-Film und Krimi – sie springt auch zwischen linearer
Narration und
Rückblenden oder wechselt unversehens zu Traum
sequenzen und
Musical-
Szenen mit
Bühnenbildelementen. Das Sprengen von
Genres und Gattungen hat Ranisch bereits mehrfach als Opern- und Spielfilm
regisseur vollzogen. Analog dazu bricht er, wie zuletzt in seinem Kinofilm
Orphea in Love (DE 2023), die Grenzen zwischen E- und U-Musik, zwischen Klassik und Populärkultur auf: So hängt über Janniks Bett ein Poster des Komponisten Peter Tschaikowsky. Und statt wie üblich Pop wird klassische Musik als äußerst funktionaler
Soundtrack eingesetzt. Dass die komplexe, unkonventionelle
Dramaturgie funktioniert, liegt nicht zuletzt an der präzisen und detailreichen Figurenzeichnung, die auch die Nebenfiguren betrifft. Die außergewöhnliche schauspielerische Leistung der jugendlichen Hauptdarsteller und die exzellent besetzten Nebenfiguren verstärken diesen Aspekt.
Die Exposition der ersten Folge suggeriert, dass sich
Nackt über Berlin mit dem Außenseitertum zweier Jugendlicher – der eine übergewichtig und sanft, der andere IT-affin und in sich gekehrt – auseinandersetzt. Tatsächlich aber kristallisieren sich im Laufe der Serie zwei andere zentrale Themenkomplexe heraus, die im Unterricht bearbeitet werden sollten: Fast alle in der Serie auftretenden Personen leiden an verdrängten Schuldgefühlen. Unmittelbar daran gekoppelt ist die Frage nach Identität: Die Figuren fühlen sich schuldig, da sie den Rollenbildern etwa als Vater, Sohn oder Lehrer vermeintlich nicht entsprechen. Hierbei sollten vor allem männliche Muster untersucht werden – die weiblichen Figuren wirken weniger komplexbeladen. Besonders Janniks Mutter und Tais Oma repräsentieren weibliches Selbstbewusstsein und sind zu Empathie fähig. Ebenso sollten Aspekte der filmischen Umsetzung erörtert werden, etwa hinsichtlich der Dramaturgie: Inwieweit kann zwischen erzählerischem Haupt- und Nebenstrang unterschieden werden? Der Kontrast zwischen ernsten Themen und hintersinnig-humorvoller Narration bietet ebenfalls einen Gesprächsanlass. Letztlich kann auch die Funktion des
Cameo diskutiert werden: Axel Ranisch hat einen Kurzauftritt als Kunde in einem vietnamesischen Supermarkt und in einer
Einstellung ist ein riesiges Plakat seines Films Orphea in Love an einem Kino zu sehen.
Autor/in: Ronald Ehlert-Klein, 02.11.2023
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