Die Filmbesprechung sowie das Arbeitsblatt sind erstmals am 08. Juli 2022 im bpb.de-Dossier "
"Die Ukraine im Film" erschienen.
Mit geschlossenen Augen tastet Masha nach den anderen Jugendlichen, die auf einem Spielplatz vor ihr zurückweichen. Besondere Vorsicht ist geboten, damit das Bier auf dem Boden dabei nicht umkippt. Ihre Klasse spielt "Stop-Zemlia", "Stopp die Welt". Die jugendliche Ukrainerin steht kurz vor ihrem Schulabschluss und bewegt sich in dem verwirrenden Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Was sie nach der Schule machen will, ist unklar. Studieren wahrscheinlich, wenn sie denn an der Uni angenommen wird. Auch ihre Mitschüler/-innen sind sich noch nicht sicher. Vielleicht Basketballspielen. Oder erst mal feiern. Die Zukunft scheint unendlich weit weg und ist gleichzeitig allgegenwärtig. Diesen Schwebezustand navigiert die introvertierte Masha gemeinsam mit Yana und Senia, ihren engsten Vertrauten. Die drei bleiben oft abseits der Klassen-Clique für sich und sind unzertrennlich, auch wenn eine unausgesprochene Spannung in der Luft liegt: Senia hat Gefühle für Masha, doch diese ist in ihren unnahbaren Mitschüler Sasha verliebt.
Ein dokumentarisch geprägter Spielfilm
In dem
Coming-of-Age-Film Stop-Zemlia erzählt die ukrainische Regisseurin Kateryna Gornostai sensibel und authentisch vom Taumel des Erwachsenwerdens zwischen Ekstase und Verzweiflung. Ursprünglich kommt Gornostai vom
Dokumentarfilm und auch ihr Langspielfilmdebüt trägt dokumentarische Züge. In einem aufwendigen Castingprozess wurden 25 Jugendliche ausgewählt, alle ohne vorherige Schauspielerfahrung. Zur Vorbereitung organisierte das Filmteam einen mehrwöchigen Workshop, in dem die Jugendlichen lernten, sich vor der Kamera zu bewegen und Stimmtraining erhielten, vor allem aber Zeit hatten, einander kennenzulernen und eine Verbindung aufzubauen. Im Anschluss wurden die Figuren des Films entwickelt, basierend auf den Persönlichkeiten der Darsteller/-innen und oft in Zusammenarbeit mit ihnen. Beim Dreh nach einem losen
Skript mit viel Raum zur Improvisation konnten sie so aus ihrer eigenen Erfahrungswelt schöpfen, um ihre Charaktere zum Leben zu erwecken.
Stop-Zemlia, Trailer (© déjà-vu Film)
Eintauchen in die authentische Gefühlswelt Heranwachsender
Zwischen den
Spielszenen sind
Interviews eingeflochten, in denen die Darsteller/-innen durch das Prisma ihrer Figuren befragt werden, also in ihrer Rolle bleiben, aber dennoch spontan aus sich heraus antworten. Hier verschwimmt die Trennlinie zwischen Realität und Erzählung. Diese regelmäßige Unterbrechung der Handlung fügt sich fließend in die episodische Struktur der Geschichte ein. Sie fokussiert zwar auf Masha als Hauptfigur, mit deren Bild der Film beginnt und endet, doch erzählt sie in einem weiteren Hauptstrang auch von Sasha und gibt den anderen Figuren ihre eigenen, teils sehr fragmentarischen Momente. Hier franst das filmische Mosaik zuweilen etwas aus und verliert sich in seiner weitgehend gelungenen Vielstimmigkeit. Dennoch bleibt der Blick auf die Teenager überzeugend, wird das Publikum in ihre Welt hineingezogen und erlebt ihre Gefühle und ihren Alltag unmittelbar, wenn auch fast beiläufig mit. Dieser immersive Eindruck entsteht nicht zuletzt durch die Sehnsucht, die aus den mal realistischen, mal warm-weichgezeichneten Bildern sickert. Die
Handkamera fängt die fast unwirklich schönen Menschen in oft intimer Nähe ein. Begleitet werden diese mitunter träumerischen Szenen punktuell von unaufdringlicher
elektronischer Musik.
Universelle Coming-of-Age-Story mit politischen Anklängen
Die
Inszenierung beschwört eine leichte Wehmut, die charakteristisch ist für Coming-of-Age-Geschichten. Trotz seiner strukturellen Eigenheiten zeigt der Film auch typische Situationen dieses
Genres: Langeweile in Schulstunden, heimliche Raucherpausen hinter der Sporthalle, Partys, auf denen zu viel getrunken wird. Auch die Einblicke in die Gefühlswelt der Figuren erscheinen universell: erste Liebe, sexuelle Fluidität und Genderidentität, Schwierigkeiten mit den Eltern, Einsamkeit, Depression und andere psychische Probleme, Zukunftsängste. Das Smartphone dabei immer in der Hand, das Digitale ein selbstverständlicher Teil ihres Daseins. Diese Teenager könnten überall erwachsen werden – würde ihnen nicht in der Schule beigebracht, Gewehre auseinanderzunehmen und zu schießen. Senia erlebt in dieser Schulstunde überraschend überwältigende Emotionen. Als Junge hat er den Krieg miterlebt, wahrscheinlich die Annexion der Krim. Ein filmischer Verweis auf die Bedrohung des friedlichen Lebens in der Ukraine durch Russland, als der 2022 gestartete Angriffskrieg noch in der Zukunft lag.
"If you don't dare, you will never know"
Zentrum der Erzählung bleibt jedoch die private Welt der Jugendlichen und speziell Masha in ihrer zögernden, ängstlichen Suche nach einem Weg aus der Passivität des Wartens auf eine ungewisse Zukunft. In traumähnlichen, subjektiven Einstellungen gibt der Film Einblicke in ihre Wünsche und die Entwicklung ihrer eigenen Stärke. Am Ende hat sie eines verstanden: Sie muss ihre verharrende Position aufgeben, ihre Angst überwinden und im Jetzt handeln, um den kommenden Möglichkeiten selbstbewusst entgegentreten zu können, auch wenn die Dinge nicht immer ausgehen, wie sie es sich erhofft hatte. Damit zeigt der Film auch eine Perspektive auf das Leben, die auch nach der Jugendzeit noch ihre Bedeutung hat.
Arbeitsblatt zum Film Stop-Zemlia
Fächer: Deutsch, Ethik, Philosophie, Kunst ab Klasse 10
Vor der Filmsichtung
a) Seht euch den
Trailer des Films
Stop-Zemlia an. Welche Erwartungen hinsichtlich der Handlung und des Genres habt ihr an den Film?
b)
Stop-Zemlia ist ein Coming-of-Age Film. Informiert euch über den Begriff und tauscht euch darüber aus, welche anderen Coming-of-Age Filme ihr kennt.
c) Seht euch den Trailer noch einmal an. Welche filmästhetischen Mittel fallen euch besonders auf und welche Wirkung erzeugen sie?
Während der Filmsichtung
d) Achtet während der Filmsichtung auf die beiden euch zugewiesenen Filmfiguren und darauf, welche Beziehung sie zu ihren Freund/-innen, zu ihrer Familie und zu sich selbst haben.
Alle: Masha (Maria Fedorchenko)
Gruppe A: Yana (Yana Bratiychuk), Mashas beste Freundin
Gruppe B: Senia (Arsenii Markov), Mashas bester Freund
Gruppe C: Sasha (Sasha Hanskyi), Mashas Klassenkamerad
Macht euch während und unmittelbar nach der Filmsichtung Notizen.
Nach der Filmsichtung
e) Tauscht euch im Plenum über Folgendes aus:
- Was hat euch besonders gut oder überhaupt nicht gefallen?
- Gibt es etwas, das euch besonders berührt hat?
- Waren eure Erwartungen bezüglich der Handlung des Films zutreffend?
f) Geht in 3er Gruppen (je eine Person aus
A, B, C) zusammen und tauscht eure Ergebnisse aus Aufgabe d) aus. Fertigt davon ausgehend ein
Figurenschaubild an, in dessen Mitte ihr Masha platziert. Stellt euch im Anschluss die Schaubilder im Plenum vor und wertet sie kriteriengeleitet aus.
g) Die Regisseurin Kateryna Gornostai gibt in einem Interview an, dass sie mit ihrem Film zeigen wollte, wie es ist, ein Jugendlicher/eine Jugendliche zu sein. Ist ihr das eurer Meinung nach gelungen? Begründet eure Einschätzung. Nehmt dabei auch Bezug auf eurer eigenes Leben und eure Erfahrungen und überlegt dabei auch, was der Film vielleicht nicht zeigt.
h) Die eigentliche Filmhandlung wird immer wieder durch Interviewszenen unterbrochen, in welchen die Jugendlichen mit unterschiedlichen, thematisch zur Filmhandlung passenden Fragen konfrontiert werden. Auf die Frage hin, ob die zwischengeschalteten Gespräche, Interviews mit den Schauspieler/-innen oder mit den Filmfiguren sind, antwortet die Regisseurin in einem Interview Folgendes:
"I can say that all the things we have in these interviews are both fictional and true. It was the actors’ decision to be honest or not about what exactly the true parts were. But I'm grateful to them that there is, in the end, a lot of truth in these interviews."
1. Welche Wirkung hatten die Interviews auf euch?
2. Was wollte die Regisseurin Kateryna Gornostai mit den zwischengeschalteten Interviews eurer Meinung nach erreichen?
3. Stimmt ihr der Aussage der Regisseurin zu, dass in den Interviews Fiktion und Realität
ineinander verschwimmen? Begründet eure Einschätzung.
i) Betrachtet dieses
Filmbild zu
Stop-Zemlia und das
Gemälde von Edvard Munch. Was fällt euch auf?
j) Das Gemälde von Edvard Munch ist von 1894 und trägt den Titel "Melancholie". Was wisst ihr über die Melancholie? Recherchiert die
Definition von Melancholie, ergänzt euer Wissen, macht euch Notizen und tauscht euch darüber aus, inwiefern die Melancholie im Film thematisch bzw. filmästhetisch umgesetzt wird.
Optionale Aufgabe: Foto-Dokumentation
k) Was bedeutet es für euch, ein Jugendlicher/eine Jugendliche zu sein? Tauscht euch zu zweit aus und macht euch Notizen. Wählt dann eine der folgenden Aufgaben:
1. Gestaltet eine Foto-Dokumentation, aus der hervorgehen soll, was es für euch heißt, ein Jugendlicher/eine Jugendliche zu sein. Schießt über eine Woche lang Fotos, wählt dann die 10 aussagekräftigsten Bilder aus. Gestaltet die Dokumentation, indem ihr die Fotos sinnvoll anordnet und kommentiert. Wenn ihr möchtet, könnt ihr einen Schwerpunkt setzen, z.B. die Beziehung zu euren Freund/-innen, zu eurer Familie oder zu euch selbst. Bevor ihr die Fotos macht, überlegt euch genau,
… und welche Funktion eure Entscheidungen jeweils haben.
2. Macht ein Foto, das für euch exemplarisch dafür steht "Was es für mich heißt, ein Jugendlicher/eine Jugendliche zu sein". Überlegt euch, bevor ihr das Foto macht, genau, an welchem Ort ihr es aufnehmen wollt, welche Einstellungsgröße und Kameraperspektive ihr wählen wollt, wie das Foto belichtet werden soll, ob Gegenstände und/oder andere Personen mit abgebildet sein sollen und welche Funktion eure Entscheidungen jeweils haben. Schreibt dann ausgehend bzw. passend zu eurem Foto einen Text oder ein Gedicht. Klebt schließlich das ausgedruckte Foto und den Text auf festes Kartonpapier.
l) Stellt eure Werke im Klassenzimmer (oder in der Schule) aus, präsentiert sie euch gegenseitig und wertet sie kriteriengeleitet aus. Reflektiert eure Werke im Hinblick darauf, inwiefern sie ästhetische und thematische Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zum Film
Stop-Zemlia aufweisen.
Autor/in: Hanna Schneider (Filmbesprechung), Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 06.02.2023
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