Willie, ein typischer New Yorker Hipster, ist genervt. Zehn Tage lang soll er seine ungarische Cousine Eva beherbergen, bevor sie weiter zur Tante nach Cleveland reist. Der ungebetene Besuch stört seine tägliche Routine von Pokerspielen und Pferdewetten, womit er sein Geld verdient. Schon gar nicht will er an seine ungarischen Wurzeln erinnert werden. So verbringt Eva zehn zermürbende Tage auf seiner Couch. Statt der Schönheiten
New Yorks zeigt ihr Willie lediglich das, was er für einen amerikanischen Lebensstil hält: endlose Stunden vor dem Fernseher mit "TV-Dinner", Football, Zigaretten, Schweigen. Doch nachdem sie abgereist ist, spürt er eine unerklärliche Leere und fährt mit seinem Pokerkumpel Eddie, der ohnehin ein Auge auf Eva geworfen hat, nach Cleveland. Als wiedervereintes Trio schaffen sie es bis nach Florida, um etwas Abwechslung zu erleben. Aber letztlich, bemerkt Eddie melancholisch, sehen alle Orte in ihrem Leben gleich aus.
Mit
Stranger than Paradise, seinem zweiten Langfilm, schuf Jim Jarmusch eine Sternstunde des jungen US-Independent-Kinos, zu dem unter anderem Filme wie Spike Lees
Nola Darling (S
he’s Gotta Have It, USA 1986) oder
Sex, Lügen und Video (
Sex, Lies and Videotapes, USA 1989) von Steven Soderbergh zählen. In nur 67 meist
statischen Einstellungen, unterbrochen von
Schwarzblenden, passiert nicht viel. Doch Jarmuschs minimalistischer Stil, passend zu seinem charakteristisch lakonischen Humor, transportiert ein Lebensgefühl: Willie, Eddie und Eva sind urbane Bohemiens, smart und selbstbewusst, aber zugleich fremd im eigenen Leben. Selbst die Schwarzblenden scheinen zu suggerieren, dass um sie herum Leere herrscht. Und doch entwickelt sich zwischen den so unterschiedlichen Figuren, die Jarmusch wie in späteren Filmen mit Musiker/-innen besetzte, eine eigenwillige Dynamik. Ohne selbst eine Miene zu verziehen, bringt Eva die existenzialistische Coolness ins Wanken. Sie durchschaut Willies Attitüde, hinter der sich innere Zweifel verbergen. Den Subtext bildet eine klassische Einwanderungsgeschichte, wie sie Jarmusch, selbst Kind europäischer Einwanderer, bestens vertraut ist. Im zweiten Teil, der sich schließlich zum Roadmovie entwickelt, wird dieses Thema auch bildlich umgesetzt.
In nüchternem
Schwarz-Weiß erzählt
Stranger than Paradise vom Ankommen und Verlorensein im vermeintlichen Traumland USA. "Die neue Welt" (New York), "Ein Jahr später" (Cleveland) und "Paradies" (Florida) heißen dessen Kapitel, doch Eddie hat recht: Die verheißungsvollen Orte sehen tatsächlich alle gleich aus. In Geschichte, Politik, Englisch und den künstlerischen Fächern kann der Film anhand des
Genres Roadmovie und dessen Motiven von Aufbruch und Veränderung erörtert werden, um anschließend das Ideal des "American Dream" mit der gezeigten Realität abzugleichen. Welches Bild haben Willie und Eva von den USA, und welches die Schüler/-innen? Der minimalistische Stil lädt dazu ein, mit ähnlichen Mitteln die eigene Umgebung in Szene zu setzen. Zur Diskussion der filmästhetischen Methoden kann auch das
Musikstück herangezogen werden, das Eva in einem Kassettenrekorder durch den ganzen Film trägt: "I Put a Spell on You" von Screamin‘ Jay Hawkins, der Song eines Schwarzen Bluesmusikers, klingt laut Jarmusch nach einem europäischen Walzer. Sein schleppender, abgehackter Rhythmus verbindet sich nicht nur mühelos mit der episodischen Struktur des Films. In der Mischung aus US-Populärkultur und dem "alten Europa" liegt bereits dessen wesentliche Botschaft.
Arbeitsblatt zum Film Stranger than Paradise
Fach: Englisch ab Oberstufe
Vor der Filmsichtung:
a) Tauschen Sie sich über die Bedeutung des Begriffs American Dream aus.
b) Sammeln Sie Assoziationen zu Sehenswürdigkeiten in New York City. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse im Tandem und anschließend im Plenum: Nutzen Sie die Methode
Think-Pair-Share.
c) Während des Kalten Kriegs besaßen Bürger/-innen der Staaten des Warschauer Pakts eingeschränkte Reisefreiheit. In Ungarn änderte sich dies erst im Jahr
1988. Stellen Sie sich vor, Sie hätten als junge/-r Ungar/-in die Möglichkeit, Anfang der 1980er-Jahre in die USA zu reisen und New York City wäre Ihre erste Station. Notieren Sie in einem Tagebucheintrag Ihre Erwartungen an den Aufenthalt an der Stadt und was Sie planen zu unternehmen.
d) Analysieren Sie die Exposition von Stranger than Paradise (TC 0:00:00-0:01:14). Gehen Sie insbesondere auf
Mise-en-scène,
Bildkomposition und
Farbgestaltung ein. Erläutern Sie, wo sich Eva befindet – in Ungarn oder den USA?
e) Eva muss notgedrungen zehn Tage bei ihrem Cousin Willie verbringen. Sehen Sie sich die folgende Sequenz an und fassen Sie zusammen, wie Eva New York City wahrnimmt. Vergleichen Sie Evas Zeit in New York City mit Ihrem Tagebucheintrag aus Arbeitsschritt c).
TC: 0:01:14–0:10:19
f) Willie ist bemüht, seine ungarischen Wurzeln zu überspielen. Sehen Sie sich den Rest des ersten Kapitels ("A New World", 0:10:19–0:28:43) an. Was ist laut Willie typisch für den US-amerikanischen Lebensstil? Machen Sie sich Notizen und vergleichen Sie Ihre Ergebnisse anschließend im Plenum. Diskutieren Sie, inwieweit Ihnen der Titel "A New World" passend erscheint.
g) Verfassen Sie einen Tagebucheintrag aus Evas Perspektive, in der sie ihre ersten zehn Tage in den USA beschreibt.
h) "A New World" gleicht einem Kammerspiel. Lesen Sie sich den Glossareintrag zum
Kammerspiel durch. Erläutern Sie, welche Gegenstände die darin beschriebene symbolische Funktion erfüllen. Sehen Sie sich dazu gegebenenfalls noch einmal die
Sequenz (in Ausschnitten) an.
Während der Filmsichtung:
i) Ab Teil 2 ("One Year Later") weist
Stranger than Paradise Elemente des Roadmovies auf. Achten Sie während der Sichtung des restlichen Films arbeitsteilig auf die Darstellung der Schauplätze (
Gruppe A: Cleveland,
Gruppe B: Florida) und die (inneren) Konflikte der Figuren. Machen Sie sich dazu stichpunktartig Notizen.
Nach dem Filmbesuch:
j) Vergleichen Sie im Tandem (jeweils ein Mitglied
Gruppe A und
B) die Beobachtungen zu den Schauplätzen.
k) Stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor. Erörtern Sie anschließend, inwieweit sich die inneren Konflikte der Figuren an anderen Schauplätzen (nicht) ändern.
l) Diskutieren Sie abschießend, inwieweit
Stranger than Paradise als kritische Auseinandersetzung mit dem American Dream gelesen werden kann. Ziehen Sie dafür insbesondere Ihre Ergebnisse der Arbeitsschritte h) bis k) sowie die Interpretation des Filmtitels in Betracht.
Exercise sheet for Stranger Than Paradise
subject: English from senior classes
Before watching the film:
a) Discuss what you know about the term "American Dream".
b) Make a list of your associations with sights and attractions in New York City. Compare your lists in pairs and then present them to class, using the method
Think-Pair-Share.
c) During the Cold War, citizens of Warsaw Pact states faced strict travel restrictions. This did not change in Hungary until
1988. Imagine you were a young Hungarian who got the opportunity to travel to the US in the early 1980s, starting in New York City. Make a diary entry detailing your expectations and what you plan to do while staying in the city.
d) Analyze the
exposition of
Stranger than Paradise (TC 0:00:00-0:01:14). Pay special attention to
mise-en-scène,
shot composition and
colour design. Discuss where Eva is – in Hungary or the US?
e) Eva has no choice but to stay with her cousin Willie for ten days. Watch the following sequence and summarize how Eva experiences New York City. Compare Eva‘s stay in New York City with your diary entry from exercise c).
TC: 0:01:14–0:10:19
f) Willie makes an effort to hide his Hungarian roots. Watch the rest of the first chapter ("A New World", 0:10:19–0:28:43). What, according to Willie, is typical of the US lifestyle? Make notes of your deliberations and then present them in class. Discuss the extent to which you think "A New World" is an appropriate title.
g) Write a diary entry from Eva‘s perspective, in which she describes her first ten days in the US.
h) "A New World" is like an intimate play. Read the definition of an
intimate play. Discuss the objects that have a symbolic function. If necessary, watch the
sequence again (in parts).
While watching the film:
i) From part two onwards ("One Year Later"),
Stranger than Paradise features elements of a road movie . While watching the rest of the film, pay attention to how locations are portrayed. Divide the work into groups (Group A: Cleveland, group B: Florida) and observe the (internal) conflicts the characters experience. Make notes in the form of bullet points.
After watching the film:
j) Split up into pairs (one member each from groups
A and
B) and discuss your observations regarding the locations.
k) Present the results of your discussions in class. Then explain how the characters’ internal conflicts change (or don’t change) from one location to another.
l) Then discuss the extent to which
Stranger than Paradise can be regarded as a critical treatment of the American Dream. Refer in particular to the results of your work on exercises h) to k) and your interpretation of the title of the film.
Autor/in: Philipp Bühler (Filmbesprechung), Ronald Ehlert-Klein (Arbeitsblatt), 20.01.2023
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