Kategorie: Hintergrund
"Zirkuskind" – Ein Dokumentarfilm für Kinder
Zu Besuch bei Santino: Wie ein Dokumentarfilm altersgerecht von der Familie und vom Alltag eines elfjährigen Zirkuskinds erzählt.

Fröhliche Zum Inhalt: Musik, wie man sie aus dem Zirkus kennt, mit tiefen Tubatönen inmitten eines Glockenspiels. Dazu einfache Zum Inhalt: Animationen mit tanzender Zuckerwatte, lachenden Gesichtern, Pferden, Musikanten und einem Zug aus Zirkuswägen. Und eine rundliche dicke Schrift, die so auch für den Titel eines Kinderbuchs passen würde. Mit diesen Bildern und Tönen beginnt der Zum Inhalt: Dokumentarfilm Zum Filmarchiv: "Zirkuskind", der nicht nur über das Leben und den Alltag des elfjährigen Santino erzählt, der in einer Zirkusfamilie aufwächst, sondern auch für Kinder erzählt. Sensibel für die Wahrnehmungsgewohnheiten und Erzählbedürfnisse eines Publikums im Alter von etwa 8 bis 12 Jahren haben Julia Lemke und Anna Koch ihren Film konzipiert und inszeniert (Glossar: Zum Inhalt: Mise-en-scène/Inszenierung). Sie öffnen so bereits jüngeren Kindern den Weg in eine Zum Inhalt: Filmgattung, die es im Kino für diese Altersgruppe nur selten zu sehen gibt.
Einladung in Santinos Welt
"Tachchen, in bin Santino. Schön, dass ihr da seid", ist sofort nach den Titeleinblendungen zu hören, während die Kamera einem Jungen auf seinem Weg über ein Zirkusgelände folgt (Glossar: Zum Inhalt: Kamerabewegungen). Aufnahmen von Santinos Vater und Mutter, seines Bruders Giordano und seines Urgroßvaters Ehe folgen und werden von Santino kommentiert; zu jeder Person wird der Name eingeblendet. Mit kurzen Eindrücken einer Zirkusaufführung mit spektakulärer Artistik und staunendem Publikum endet die Zum Inhalt: Sequenz, bis Santino, noch immer aus dem Zum Inhalt: Off, zusammenfasst: "Das ist mein Zuhause."
Die Eröffnungssequenz macht bereits eine wichtige Entscheidung der Filmemacher/-innen deutlich: Sie verschwinden hinter der Kamera, bleiben unsichtbar und unhörbar. Bild und Ton gehören ganz den Protagonist/-innen – und Santino erhält, quasi als "Titelheld", sogleich das Wort.
Diese Lösung ist in mehrfacher Hinsicht charmant. Zum einen, weil das Publikum dadurch Santino gleich selbst kennenlernt – schon an seiner Stimme ist zu erkennen, wie selbstbewusst und aufgeschlossen er ist und dass er kein Problem damit hat, vor anderen Menschen zu sprechen. Zum anderen ist er für Kinder eine Person auf Augenhöhe und eine Identifikationsfigur. Es entsteht nicht der Eindruck, dass da Erwachsene über ein Kind erzählen, sondern das Kind darf selbst erzählen. Und zwar so, wie es eben redet. Die direkte Ansprache des Publikums verstärkt dabei das Gefühl, unverstellt an Santinos Alltag teilhaben zu dürfen. Er durchbricht durch seine Begrüßung die so genannte Zum Inhalt: Vierte Wand und stellt eine Beziehung zu den Zuschauenden her.
Dass es für Kinder leicht ist, sich auf Santino und seine Welt einzulassen, liegt auch an den Kernthemen von "Zirkuskind". Denn der Film beginnt eben nicht abstrakt und unpersönlich, erzählt auch nicht erst über den Zirkus und danach über die Menschen hinter den Kulissen, sondern mit der Vorstellung einer Familie und eines Zuhauses. Dass dieses Zuhause dann so außergewöhnlich ist, macht neugierig darauf, mehr über Santino und sein Leben zu erfahren.
Beobachten und selbst einordnen
Zum Alltag von Santino gehört auch, ständig die Schule wechseln zu müssen. Die Kamera folgt ihm in unterschiedliche Klassen und beobachtet dabei die sich stets wiederholenden Rituale: Santino muss sich vorstellen und ist zugleich für die Klasse, deren Teil er nun für eine oder zwei Wochen sein soll, Forschungs- und Untersuchungsobjekt. Als "Experte" muss er Auskunft geben über das Leben eines Zirkuskinds. Und manchmal stellen die Kinder in den Klassen an Santino auch Fragen, die das Filmpublikum genauso an ihn stellen könnte: Werden die Tiere im Zirkus gequält? Wie lange dauert deine Reise mit dem Zirkus noch?
Interessant ist, dass der Film dabei keine direkte Wertung vornimmt und auch Santino sich nie kritisch über die Schulwechsel äußert. Doch durch die Wiederholung dieser Situation an unterschiedlichen Orten vermittelt der Film, was die Umzüge für Santino bedeuten. Besonders bemerkenswert ist dies, weil der Film seinem jungen Publikum damit kein Urteil vorsetzt, sondern es ernst nimmt und es ihm überlässt, das Gesehene einzuordnen und zu bewerten. Kann man Freund/-innen finden, wenn man nur so kurz an einem Ort ist? Und bleibt Santino dann nicht doch eher Außenseiter in den Klassen?
Heute und früher
Einen besonderen Stellenwert im Rahmen des Films hat die Beziehung von Santino zu seinem fast 80-jährigen Urgroßvater Ehe, der seinen Urenkel über alles liebt und zu einer zweiten Hauptfigur wird. Auch Opa Ehe war Zirkuskind, was es den Filmemacherinnen ermöglicht, durch ihn auch einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und zu erzählen, wie sich das Leben der Zirkusleute im Laufe des letzten Jahrhunderts verändert hat.
Als Santinos Vater in einer Zum Inhalt: Szene berichtet, welche Ausgrenzung er als Kind in der Schule erlebt hat, ordnet Ehe dies auch historisch ein und führt vor Augen, dass die Zirkusleute schon immer am Rand der Gesellschaft standen. Er beginnt, über seine Familie zu erzählen, die während des NS-Regimes verfolgt wurde: Seine Mutter – eine Sinti – mussten sie verstecken. Sein Schwager wurde mit Vater, Mutter und Geschwistern in ein Konzentrationslager deportiert und überlebte als einziger. "Zirkuskind" wechselt in dieser Szene in die Form der Animation (Glossar: Zum Inhalt: Zeichentrickanimation). Schlicht gehaltene Bilder visualisieren die Worte von Ehe aus dem Off. Grausamkeiten bleiben ausgespart, die Erklärungen verzichten auf detaillierte historische Fakten und heben stattdessen hervor, was Kinder verstehen können: dass Menschen grundlos massiv bedroht und ungerecht behandelt wurden und um ihr Leben fürchten mussten. Mit einfachen Mitteln gelingt es den Filmemacherinnen dabei, die Folgen und die Grausamkeit der Nationalsozialisten sichtbar zu machen: Auf Zeichnungen, die Ehes große Verwandtschaft auf Familienfotos zeigen, verschwinden nach und nach all jene, die ermordet wurden. Was bleibt, sind viele schmerzliche Lücken und eine zerstörte Familie.
Die Szene vermittelt kein umfassendes Wissen. Aber sie kann Kinder zum Nachfragen anregen, ohne sie zu überfordern. Schön daran ist, dass diese Auseinandersetzung nicht erzwungen wird; sie bleibt eine Möglichkeit. So ist "Zirkuskind" insgesamt als Einladung angelegt: Lernt Santino kennen. Taucht mit ihm und seinem Uropa in seine Lebenswelt ein. Seht euch darin um, hört ihnen zu. "Zirkuskind" ist kein Erklärfilm, sondern wirkt eher wie ein Besuch bei netten Menschen.