Eigentlich sollte
Drei Haselnüsse für Aschenbrödel im Sommer spielen. Weil das Pensum der koproduzierenden DEFA zum geplanten Drehzeitpunkt allerdings erfüllt war, fand die Produktion im Winter statt. Es liegt also an einem eher zufälligen Umstand, dass der 1973 uraufgeführte
Märchenfilm mit seinen winterlich-romantischen Bildern heute in Deutschland, Tschechien und der Slowakei als Weihnachtsklassiker gilt, den die öffentlich-rechtlichen Sender in der Adventszeit turnusmäßig ausstrahlen. Dabei ist die tschechoslowakisch-ostdeutsche
Adaption des Märchens von Božena Němcová, das die Gebrüder Grimm als
Aschenputtel aufgeschrieben hatten, gar kein ausdrücklicher Weihnachtsfilm. Weder spielt die Geschichte an den Feiertagen, noch bezieht sich das
Drehbuch von František Pavlíček darauf. Dass das Märchen gleichwohl besonders gut in die besinnliche Zeit passt, liegt an der hoffnungsvollen und magisch aufgeladenen Winterstimmung, bei der das Gute Ungerechtigkeiten überwindet. So wie Wiederholungen und die für Märchen typische Verwendung von Zahlen Motive des Films selbst sind – zweimal helfen Tauben, dreimal reitet der Prinz Aschenbrödel hinterher, drei Wünsche hat das Aschenbrödel frei – verströmt die wiederholte Sichtung behagliche Nostalgie ohne viel Aufregung, mit Humor und der Gewissheit eines glücklichen Endes.

Im Mittelpunkt steht das von der damals 19-jährigen Libuše Šafránková ausdrucksstark gespielte Aschenbrödel. Nach dem Tod ihres Vaters ist die junge Frau ihrer garstigen Stiefmutter ausgeliefert, die den väterlichen Gutshof an sich gerissen hat. Während das verwaiste Aschenbrödel wie eine Magd behandelt wird und Trost im vertrauten Umgang mit Tieren wie der Eule Rosalie findet, bevorzugt die Stiefmutter ihre nicht minder gemeine leibliche Tochter Dora. Diese soll auf einem Ball, den das Königspaar für die Brautschau ihres Sohns veranstaltet, den Prinzen bezirzen. Mit der Hilfe dreier magischer Haselnüsse überwindet Aschenbrödel jedoch ihre Unfreiheit. Sie trifft den Prinzen erst bei der Jagd und schließlich auf dem Ball, wo sie beim Tanz sein Herz gewinnt. Doch statt gleich in den Bund der Ehe einzuwilligen, gibt Aschenbrödel dem Prinzen ein Rätsel auf und türmt auf ihrem Schimmel Nikolaus. Bei der Suche nach der geheimnisvollen Schönen nutzt der Prinz einen von ihr verlorenen Ballschuh …
Wenig Tricktechnik, viel Atmosphäre
Die vielfach variierte und ungebrochen populäre Geschichte des Aschenputtels kennt hierzulande jedes Kind. Was die Adaption des tschechoslowakischen Märchenfilm-Regisseurs Václav Vorlíček zum ewigen Dauerbrenner macht, ist zunächst die versierte
Inszenierung: Ohne viel
Tricktechnik und Pomp lebt der Film von seiner mit simplen Mitteln hergestellten Atmosphäre. Die
unter anderem im Böhmerwald gefilmten und teils mit Kunstschnee realisierten Natur
szenen imponieren mit einer bodenständigen Schlichtheit, die retrospektiv umso mehr ins Auge fällt. Wenn Aschenbrödel in dynamisch
geschnittenen Bilderfolgen durch verschneite Fichtenwälder reitet und der verträumte
Score des Komponisten Karel Svoboda ertönt, erzeugt das eine sehr schwelgerische Stimmung. Inspiriert vom Jahreszeitenbild Pieter Bruegels des Älteren "Die Jäger im Schnee" (1565) spielt der Film immer wieder in der Natur, die anders als die Innenräume am Königshof und im stiefmütterlichen Gut Freiheit statt Konventionen verheißt. Ein weiterer markanter
Drehort ist Schloss Moritzburg bei Dresden, wo bis heute Ausstellungen zum Film stattfinden. Daneben wurde ein Großteil der Innenszenen in den Babelsberger DEFA-Studios und im Studio Barrandov gedreht, zwei Produktionsstätten mit viel Expertise im Märchenfilmgenre.
Nostalgisch wirkt nicht nur die Musik, sondern auch die bunten und teilweise bewusst wirklichkeitsfernen
Kostüme und
Requisiten, die nach heutigen Maßstäben mehr an ein Theaterstück als einen Kinofilm erinnern. Im Titelvorspann setzt Vorlíček
Freeze Frames und
Zooms ein, die das Entstehungsjahrzehnt sofort erahnen lassen. Unterschwellig klingt in der DEFA-Koproduktion Kapitalismuskritik an, wenn die herrische Stiefmutter die Gutsarbeiter/-innen schlecht behandelt und nach nichts als gesellschaftlichem Aufstieg trachtet. Aschenbrödel schert sich indes wenig um Standesunterschiede, sondern folgt ihrem Herzen, das aller schlechten Behandlung und dem Verlust der Eltern zum Trotz immer am rechten Fleck bleibt.
Ein modernes rebellisches Aschenputtel
Einen modernen Anstrich gewinnt der witzig-ironische Film durch Aschenbrödels schlagfertige und rebellische Art, mit der sie hergebrachte Märchenrollenbilder aufbricht. Gleich zu Beginn kritisiert die Stiefmutter ihre Ziehtochter dafür, mit ihrem Faible für Bogenschießen und Reiten "wie ein Junge" aufgewachsen zu sein, was ihr nun ausgetrieben werden soll. Doch daran denkt Aschenbrödel nicht. Sie läuft nicht nur von zu Hause weg, sondern wiederholt auch dem Prinzen davon, der sich ihr gegenüber erst noch als würdiger Geliebter beweisen muss. Während der verspielte Thronfolger seiner Vermählung unwillig entgegen blickt, doch kaum aufbegehrt, nimmt Aschenbrödel ihre Geschicke in die Hand. Das gelingt in einer zauberhaften Mischung aus Selbstermächtigung und Schicksal: Die Nüsse gelangen in Aschenbrödels Besitz, weil der Prinz sie von einem Baum schießt. Doch wenngleich ihr die Magie schicksalhaft zufällt, nutzt sie diese eigenständig. Passenderweise endet der Film anders als etwa die Disney-Version
Cinderella (USA 1950) nicht mit der Hochzeit des Liebespaars. Stattdessen reiten Braut und Bräutigam übers weite, offene Feld davon.
Autor/in: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 10.12.2021
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