Alles auf Zucker! ist ein zweifacher Geniestreich: Dieser Film ist eine vor intelligentem Witz und Situationskomik sprühende, erstklassige Komödie, wie man sie im deutschen Kino lange nicht mehr gesehen hat. Zugleich ist es der erste deutsche Nachkriegsfilm, der sich humorvoll mit jüdischem Leben im Deutschland der Gegenwart beschäftigt – ein gewisser Tabubruch vor dem tragischen Hintergrund des Holocaust und ein Verstoß gegen Political correctness, denn wer hierzulande über Juden witzelt, kann schnell in die antisemitische Ecke geraten. Doch der in der Schweiz geborene und in Berlin lebende Regisseur Dani Levy ist selbst jüdischer Abstammung und sein cleveres Drehbuch denunziert niemanden. Alle Figuren wirken trotz oder gerade wegen ihrer Marotten sympathisch, so dass der Film niemals in die Nähe von antisemitischen Vorurteilen rückt. Er ist vielmehr eine moderne "Comédie humaine", in der die Figuren gerade durch ihre Schwächen an Menschlichkeit gewinnen. Erst wenn jede/r auch bereit ist, über sich selbst zu lachen und die Neurosen der anderen zu tolerieren, wird am Ende eine Versöhnung möglich.
Zwei deutsch-jüdische Biografien
An Jaecki Zucker, der einst als Jakob Zuckermann geboren wurde, und seinem Bruder Samuel werden zwei Biografien sichtbar, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Samuel, der einer Beinoperation wegen mit seiner Mutter 1961 aus Ostberlin in den Westen floh und Geschäftsmann in der Bankenstadt Frankfurt am Main wurde, lebt streng orthodox. Jakob dagegen ist schon seit langem nur noch auf dem Papier ein Jude. Weil er als Jugendlicher unbedingt auf dem DDR-Sportinternat bleiben wollte, wuchs er ohne Eltern auf, machte später als Sportreporter Karriere, erlebte aber nach der Wende einen sozialen Abstieg und hält sich nun zum Leidwesen seiner Frau, die sich von ihm scheiden lassen möchte, als Spieler und Lebemann und mit kessen Sprüchen über Wasser. Nebenher betreibt er ein hoch verschuldetes Amüsierlokal für einsame Menschen und wegen seines Insolvenzverfahrens steht er bereits mit einem Bein im Gefängnis. Der plötzliche Tod der Mutter führt die ungleichen Brüder wieder zusammen. Am Zusammenprall ihrer unterschiedlichen soziokulturellen Identitäten entzündet sich die Komik, denn beide sind auf gleich mehreren Ebenen Gegenspieler: als Jude und Nichtjude, Wessi und Ossi, Kapitalist und "Kommunist".
Ein heilloses Schlamassel ...
Da die Mutter im Testament verfügt hat, dass die Brüder nur dann ihr Erbe antreten dürfen, wenn sie sich aussöhnen und eine siebentägige Schiwa-Trauerfeier halten, müssen sie sich zusammenraufen, andernfalls fließt das vermutlich beträchtliche Erbe an die jüdische Gemeinde. Aber beide benötigen das Geld dringend, denn Samuel hat sich an der Börse verspekuliert und Jaecki wurde durch den eigenen Sohn schon der Gerichtsvollzieher auf den Hals gehetzt. Mit den Bedingungen der Mutter tut sich Jaecki, der mit Religion so gar nichts am Hut hat, schwer. Weitaus disziplinierter zeigt sich seine Frau Marlene, die, obwohl sie keine Jüdin ist; sogar ihre Scheidungsabsichten zurückstellt, um die Bedingungen der Trauerzeit einzuhalten. Mit den Grundlagen koscherer Ernährung ist sie allerdings ebenso überfordert wie ihr Mann, obwohl sie sich allergrößte Mühe gibt, Milch- und Fleischprodukte getrennt zu halten. Jaecki beschäftigt noch ein weit größeres Problem: Ein internationales Billard-Turnier, das sich zeitlich mit den Begräbnisfeierlichkeiten überschneidet, winkt mit einer Siegerprämie von 100.000 Euro. Die von einem Rabbi kontrollierte Einhaltung der Regeln im Rahmen der Trauerzeit duldet indes als einzigen Grund für Abwesenheit nur schwere Krankheit. So entschließt sich der Schlawiner zu einem Bluff, täuscht einen Herzinfarkt vor, simuliert mit Hilfe seiner Tochter und einigen Freunden sogar eine Fahrt mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus, um sich dann heimlich davonzustehlen.
... die Erkenntnis und das Lachen
Natürlich läuft die Sache schief, aber gerade als Jaecki vor versammelter Familie Farbe bekennen muss und er Erbschaft und Preisgeld zugleich verspielt zu haben scheint, zeigt sein Bruder Mitgefühl, erkennt das Ausmaß seiner Misere und gönnt ihm eine letzte Chance zum großen Auftritt. So mündet
Alles auf Zucker! in die gleiche Erkenntnis wie Lessings Drama "Nathan der Weise": Nicht religiöse Überzeugungen und damit verbundene Verhaltensregeln bringen die Menschen einander näher, sondern ihre gegenseitige Achtung und Toleranz. Dazu muss man eigene Schwächen zulassen und Sturheiten überwinden, um dann auch beim Anderen Nachsicht zu üben. Dass diese Erkenntnis nachvollziehbar ist, verdankt der Film vor allem seinen komplexen Charakteren und ihren wunderbaren Darstellern/innen: Jede Figur lädt zum Schmunzeln ein und alle Beteiligten müssen lernen, auch über sich selbst zu lachen, denn wer das kann, hat auch etwas über sich selbst erkannt.
Gemeinsamkeiten verbinden
Mag Jaecki auch ein Lügner oder Heuchler sein, einen jüdischen Lebenswandel täuscht er nicht aus Böswilligkeit oder Häme vor, sondern um aus seiner Misere heraus zu kommen und aus Spielleidenschaft. Innerhalb nur weniger Minuten avanciert er zum Publikumsliebling dank seines grandiosen Darstellers Henry Hübchen, der mit Berliner Schnodderschnauze und lausbübischem Charme agiert. Auch Samuel, der vermeintlich bravere Bruder, befindet sich in einem moralischen Konflikt: Im kapitalistischen Teil Deutschlands ist er zu einem "Spieler" der Geschäftswelt geworden, der Monat für Monat Miete von seinem eigenen Bruder abkassiert und sich nicht minder stur und vernagelt zeigt. Doch im früheren Ostberlin macht er eine Wandlung durch, die ihren Höhepunkt darin findet, dass er durch die versehentliche Einnahme einer Ecstasy-Pille in den Armen einer palästinensischen Animierdame landet – eine ebenso tragikomische wie zynische Anspielung auf den Nahostkonflikt. Als er schließlich zugeben muss, dass auch er das Geld aus der Erbschaft dringend benötigt, wächst seine Bereitschaft, dem Bruder zu helfen. Wenn ausgerechnet die nichtjüdische Marlene in einer Nacht die 39 Verbote am Sabbat studiert und sich zur eifrigen Synagogengängerin entwickelt, sind sämtliche Vorurteile aus der Vergangenheit ad absurdum geführt. Aber Levy erhebt ohnehin nicht den Anspruch, seine Komödie in größere geschichtliche Zusammenhänge einzubetten.
Läuterungen
In ihrer Ambivalenz runden die Nebenfiguren das vielschichtige Bild ab: Samuels Sohn Joshua ist zwar ein herzensguter Mensch, gleichzeitig aber auch ein strenger Sittenwächter. Als sich herausstellt, dass er der Vater eines unehelichen Kindes von Jaeckis Tochter Jana ist, und somit selbst den strengen Glaubensregeln nicht mehr gerecht wird, kann er Nachsicht mit seinem Onkel üben. Jana wiederum, die anfangs ihrem nach Geld fragenden Vater brüsk die Tür vor der Nase zuschlägt, zeigt ihm gegenüber plötzlich Güte und hilft ihm bei seinen Gaunereien, zumal er als großer Frauenheld ihre lesbische Beziehung offenbar komplikationslos akzeptiert. Und Thomas, Jaeckis verklemmter, stotternder Sohn, findet zu menschlicher Kontaktfähigkeit, nachdem ihm Samuels Tochter Lilly zum ersten sexuellen Erlebnis verholfen hat. Am Ende, wenn alle geläutert sind, kommt es zur Versöhnung wie in einer klassischen Komödie – das letzte Wort hat dabei ein weiser Rabbi.
Autor/in: Kirsten Liese, 01.01.2005