Hintergrund
Kulturelle Identität und Jugendkultur
Der Kontrast könnte nicht größer sein: Während die dörfliche Blaskapelle ein beschauliches Volkslied anstimmt, dröhnt nur wenige Meter entfernt von der Black-Metal-Bühne ohrenbetäubendes Schlagzeughämmern und schriller Gitarrensound. Hier die Wackener Dorfbevölkerung beim Kaffeekränzchen, Kirchenchor oder im Kuhstall, dort schwarzgewandete junge Leute in nietenschweren Lederjacken. Mit leichtem Schmunzeln beobachtet der Dokumentarfilm
Full Metal Village (R: Sung-hyung Cho) die friedliche, wenn auch manchmal befremdende Begegnung divergierender Gruppen- oder Lebenskulturen anlässlich des Wacken-Open-Air-Festivals. Wir alle brauchen, mehr oder weniger, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit ähnlichen Wertvorstellungen – ein Phänomen, das die Soziologie mit dem Begriff der "kulturellen Identität" zu erfassen sucht.
Gruppenbildung und Wir-Gefühl
Fragen wie "Was ist typisch deutsch?" oder "Gibt es eine deutsche Leitkultur?" haben Konjunktur. Im Allgemeinen umschreibt der Begriff der Kultur alle Hervorbringungen oder Leistungen des Menschen in gesellschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Politik, Religion oder Kunst. Jede Gesellschaft verfügt über eine so genannte kulturelle Struktur, also über einen Bereich gemeinsamer Wertvorstellungen, der das Verhalten ihrer Mitglieder regelt und positiv oder negativ sanktioniert. Innerhalb einer Gesellschaft bilden sich zudem unterschiedliche Gruppenkulturen heraus, zu diesen zählen beispielsweise Arbeitsgruppen, aber auch die Familie, Nachbarschaft oder Kommunen. Die Bedeutung von Gruppenbildung liegt – vereinfacht ausgedrückt – in einem Bedürfnis des Individuums nach Schutz und Bindung, nach einem Gefühl der Zugehörigkeit (Wir-Gefühl).
Gemeinsame Verhaltensweisen und "kulturelle Identität"
Gruppenmitglieder bilden durch Interaktion gemeinsame Verhaltensweisen und spezifische Normen heraus. Das Konzept der "kulturellen Identität" kann somit als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, einem Kollektiv oder einer Subkultur verstanden werden, die sich durch die ihr eigenen Wertvorstellungen und Normen von anderen Gruppen oder Subkulturen abgrenzt. Dem Bedürfnis nach Abgrenzung entspricht der Wunsch des modernen Individuums nach Eindeutigkeit und Ordnung, die Sicherheit versprechen. Der Mensch kann in seiner Bezugsgruppe Handlungen sicher ausführen und seine Reaktionen auf Handlungen anderer Gruppenmitglieder sind voraussehbar. Allerdings gehört jeder Mensch immer verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft an. Am Beispiel von Bauer Trede verdeutlicht dies auch Full Metal Village: Als Einwohner und Landwirt in Wacken ist er zugleich in die Festivalaktivitäten involviert.
Begegnung mit dem Fremden
Ein hohes Konfliktpotenzial liegt in der Möglichkeit der Begegnung mit Fremden, die der Soziologe Georg Simmel wie folgt beschreibt: "Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt [...]" Jede Gesellschaft, aber auch jede Gruppe konstruiert sich ihre eigenen Fremden, diejenigen, die nicht in die jeweils geltende Gesellschaftsordnung passen. Diese müssen nicht unbedingt einer anderen Ethnie angehören. Dem Soziologen Zygmunt Bauman zufolge sind Fremde bedrohlich, da sie sich nicht in das vertraute Freund-Feind-Schema einfügen und der Umgang mit ihnen nicht eindeutig geregelt ist. Das Auftauchen von Fremden ist typisch für die Moderne: Distanzen sind heute schneller überwindbar, zudem ist die Welt mobiler geworden und stärker als je zuvor durch das Internet zusammengewachsen. Auch an bislang vertrauten Orten ist das Zusammentreffen mit "Fremden" jederzeit möglich.
"Multikulturalismus" oder Ausgrenzung
Eine Gesellschaft muss auf diese kulturelle Pluralität auf politischer Ebene reagieren, wobei die Konzepte und Strategien in diese Richtung als "Multikulturalismus" bezeichnet werden können. Gleichzeitig wird damit aber auch die "Vision eines friedlichen Zusammenlebens" beschrieben. Wie letztlich mit ethnischen und kulturellen Differenzen umgegangen wird, beispielsweise in Form einer gelungenen Integration, muss von den Entscheidungsträgern der Mehrheitskultur festgelegt werden. Oftmals haben als kulturelle Konflikte umschriebene Auseinandersetzungen zwischen Gruppen ein stark ökonomisch motiviertes Moment, beispielsweise wenn es um eine Auseinandersetzung um materielle Ressourcen geht, denn die etablierte Gruppe möchte ihre Position erhalten. Im Falle des Heavy-Metal-Festivals in der Gemeinde Wacken ist die positive Aufnahme der "Fremden" sicher auch dadurch motiviert, dass die Gäste dem Dorf zu einem Gewinn in finanzieller Hinsicht verhelfen.
Der Wunsch nach Abgrenzung: Jugendkulturen
Doch auch innerhalb einer Gesellschaft oder ethnischen Gemeinschaft ist der Wunsch nach Abgrenzung gegenüber den "Anderen" vorhanden. In der Adoleszenz besteht ein starkes Bedürfnis junger Menschen, sich von dem Kollektiv der Erwachsenen zu unterscheiden. In der Jugendforschung charakterisiert "Kultur" die gruppentypischen Stile unter jungen Menschen, beispielsweise Anhänger der Techno-Szene, Punks oder Skater. Entwicklungspsychologisch sind die innerlichen und äußerlichen Abgrenzungsprozesse Jugendlicher von der Elterngeneration wichtige Bestandteile der Jugendphase, da sie Voraussetzung für die erfolgreiche Autonomie und Individuation sind. Jugendliche entwickeln hier eine eigene Identität. Negative Jugendkulturen, beispielsweise die gewaltbereite Skinhead-Szene, können also auch als Reaktion auf eine misslungene Sozialisation durch die Elterngeneration verstanden werden.
Die Suche nach dem eigenen Selbst
Jugend ist aber auch ein Zeitraum des Übergangs zwischen "nicht mehr Kind" und "noch nicht erwachsen". Der Wunsch junger Menschen, sich zu altershomogenen Jugendkulturen mit eigenen Stilen und Interessen zusammenzuschließen, kann als Ausdruck der Suche nach dem eigenen Selbst verstanden werden. Ein weiteres Spezifikum der Jugendphase ist die Tatsache, dass Jugendliche sich mit den Grenzbereichen der menschlichen Existenz auseinander setzen. Die Frage: "Wer bin ich?" ist in dieser Lebensphase von nahezu existenzieller Bedeutung. Nicht nur ihre Verhaltensweisen weichen systematisch von denen Erwachsener ab, sondern auch auf ästhetisch-expressiver Ebene wird die Abgrenzung beispielsweise durch einen speziellen Kleidungsstil geradezu gesucht. Die spezifischen Inhalte und Formen der materiellen, vor allem aber der geistigen Kultur, sind der Versuch der Jugendlichen, ein eigenes Lebensgefühl und eigene Werthaltungen zu entwickeln.
Der Dokumentarfilm Full Metal Village beschreibt im Kleinen, wie eine gelungene Koexistenz zweier unterschiedlicher Gruppen zumindest zeitweise möglich ist, unter anderem durch die Anerkennung der Andersartigkeit. Zudem stimmen soziologische Theorien grundsätzlich überein, dass Menschen immer Mitglieder verschiedener Gesellschaftsgruppen sind, die schließlich ihre Identität formen.
Literaturhinweise und Links:
Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992
Benz, Ute und Wolfgang: Jugend in Deutschland. Opposition, Krisen und Radikalismus zwischen den Generationen, München 2003
Giesen, Bernhard (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt am Main 1991
Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als mutikulturelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002
Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe Band 11), Frankfurt am Main 1992
www.dji.de
Deutsches Jugendinstitut e.V.
www.kulturforschung.de
Unabhängiges Zentrum für Kulturforschung
www.paritaet.org/via
Verband für interkulturelle Kompetenz
Autor/in: Verena Walter, Diplom-Soziologin, 29.03.2007
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