Als der clevere Südstaaten-Gouverneur Jack Stanton bei den US-Vorwahlen antritt, um sich zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei wählen zu lassen, hat er keine großen Chancen. Bei den Bürgern wie auch bei seiner engagierten Wahlkampfmannschaft profitiert er von seinem Charme und rhetorischen Talent. Berater und Parteistrategen müssen jedoch nicht nur politische Hürden wie einen vertuschten Vietnam-Protest Stantons bewältigen, sondern auch die Folgen seines Appetits auf außerehelichen Sex eindämmen. Je näher der Abstimmungstermin rückt, umso skrupelloser agieren politische Gegner, um dem Gouverneur weitere Skandale anzuhängen. Als der idealistische Wahlkampfmanager Henry und die gewiefte Libby, eine langjährige politische Weggefährtin der Stantons, jedoch belastendes Material über einen Rivalen in der eigenen Partei entdecken, wird Stanton vor die Wahl gestellt, ob er dieses Wissen zu seinem eigenen politischen Vorteil nutzt. Im Kern geht es dabei um die Frage: Rechtfertigt der hehre Zweck unsaubere Mittel?
Mike Nichols' mit etlichen Oscar-Preisträgern hochkarätig besetzter Spielfilm
Mit aller Macht beruht auf dem gleichnamigen, 1996 zunächst anonym veröffentlichten Bestseller, den Joe Klein, ein Kolumnist des US-Nachrichtenmagazins "Newsweek", schrieb. Obwohl die Verfilmung Parallelen zum Wahlkampf des heutigen US-Präsidenten Bill Clinton aufweist, erhebt sie nicht den Anspruch einer realistischen Wirklichkeitsabbildung wie etwa D. A. Pennebakers kritischer Dokumentarfilm
The War Room. Spektakuläre Enthüllungen und Gerüchte um Clinton liefern zwar die Folie der satirisch zugespitzten Filmhandlung, doch unübersehbar geht es Nichols um grundsätzliche Themen, wie das der Ehre, der moralischen Verantwortung und was der Einzelne von Politikern erwartet.
Erzählt wird
Mit aller Macht aus der Perspektive des jungen Idealisten Henry, Sohn eines berühmten schwarzen Bürgerrechtlers. Mit ihm erlebt und durchleidet das Publikum variantenreich, wie persönliche Integrität und politische Taktik immer wieder aufeinanderprallen. Der Regie gelingt es mit diesem dramaturgischen Kniff, den Kontrast zwischen Theorie und Praxis, ethischem Anspruch und schnödem Polit-Alltag schärfer herauszuarbeiten. Henry steht mit seinem etwas naiven Glauben an das Gute paradigmatisch für einen Teil des amerikanischen Volks, das sich – geprägt vom Puritanismus der Pionierzeit – eine politische Führerfigur ohne Fehl und Tadel wünscht. Die Schattenseiten dieses latenten Drangs zur Glorifizierung – ein übersteigerter moralischer Rigorismus, die Gefahr der Doppelmoral und die Sensationsgier einer heuchlerischen Medienszene – zeigen Nichols und die Drehbuchautorin Elaine May unverblümt.
Stanton wird sehr differenziert in seinen Stärken und Schwächen dargestellt, plädiert Nichols doch für einen pragmatischen Humanismus und politische Vernunft, denn man muss die Regierenden sehen, wie sie sind, "man kann nicht nur Größe von ihnen erwarten, sie haben auch Gelüste". Diese können rein privater Natur sein, sich aber auch in der Lust an der Macht manifestieren. Letztere tritt am deutlichsten in einem klärenden Vierergespräch zu Tage, als Stanton und seine Frau sich entscheiden müssen, ob sie die einstigen Leitbilder dem aktuellen politischen Kalkül opfern. Verschärft wird der zentrale Konflikt dadurch, dass sie nicht einen Politiker der gegnerischen Partei, sondern einen Rivalen aus der eigenen Partei öffentlich bloßstellen. Aus dem menschlichen Versagen der Stantons ziehen die beiden wichtigsten Wahlkampfhelfer konträre Konsequenzen: Während die zutiefst enttäuschte Libby in den Freitod geht, entschließt sich der desillusionierte Henry um des politischen Fernziels willen, die Stantons weiter zu unterstützen. Angesichts der zahlreichen Spezifika des amerikanischen Wahlsystems und der Kandidatenkür lässt sich das fiktionale Hollywood-Drama kaum auf Deutsche Verhältnisse übertragen. Allerdings werfen der Umgang mit der Macht und der Erwartungshorizont der Wähler sowie das damit kontrastierende, von Sachzwängen eingeschränkte Handlungsvermögen der Gewählten elementare Fragen der politischen Kultur auf, mit der sich alle Demokratien auseinander setzen müssen.
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.09.1998