Zusammenprall zweier Kulturen
In Wacken, einem kleinen Dorf nahe der schleswig-holsteinischen Küste, geht alles seinen gewohnten Gang. Tau tropft von den Heuballen, Kühe blöken. Landwirt Klaus Plähn sitzt rauchend vor seiner Milchanlage und hält ein Auge auf die Nachbarschaft. Doch die Idylle trügt. Schon bald bahnen sich monströse LKWs den Weg durch die enge Hauptstraße und auf den Feldern wachsen rätselhafte Stahltürme aus dem Boden. Irgendwann erklingt der erste Power-Akkord und der in den Bahnhof eingefahrene "Metal-Train" spuckt eine gewaltige Horde von Schwarzgekleideten aus, die sich fröhlich grölend ihren Weg zum Festivalgelände bahnen. Jedes Jahr im August wird die 2000-Seelen-Gemeinde Wacken zum Schauplatz des weltweit größten Heavy-Metal-Festivals mit mehr als 40.000 begeisterten Fans. Neben den berühmten Motörhead oder den Scorpions spielen hier auch Bands mit Namen wie Fear Factory, Atheist oder Bloodthorn. Das Wacken-Open-Air (W:O:A) ist der Grund dafür, dass Oma Schaak und der Pastor das Dorf einmal im Jahr fluchtartig verlassen.
Nicht über das Festival, sondern über die Menschen von Wacken hat die Südkoreanerin Sung-hyung Cho, die seit zwanzig Jahren in Deutschland lebt, einen in jeder Hinsicht gelungenen Dokumentarfilm gemacht. Einen Heimatfilm habe sie drehen wollen, eine Mentalitätsstudie, und zugleich einen Film über den Zusammenprall zweier Kulturen, erklärt die Regisseurin. In Wacken ist beides möglich: Beschauliches bäuerliches Milieu trifft auf jugendliche Lust am Exzess. Auf den ersten Blick scheint das Aufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Lebensstile genügend Reibungsflächen zu bieten. Doch diejenigen, die sich wie die tief religiöse Irma Schaak vom pseudo-satanistischen Gebaren der Metal-Szene abgestoßen fühlen, bleiben die große Ausnahme. In Wahrheit nämlich leben die Wackener sehr gut mit dem Festival. Sie haben es selbst gegründet.
Die Wackener Bevölkerung
Motorrad-Fan Norbert Venohr gehörte zu jenem kleinen Grüppchen ortsansässiger Heavy-Metal-Fans, die das Wacken-Open-Air 1990 gegründet haben. Als das Festival immer größere Dimensionen annahm, stieg er aus. Heute ist der gelernte Handwerker arbeitslos, die Mitgründer von damals wurden an der Großveranstaltung reich. Bauer Uwe Trede verpachtet die Felder, auf denen das Festival stattfindet, fährt mit 65 das heißeste Motorrad im Dorf und verdient auch als Organisator des Festival-Ordnungsdienstes kräftig mit. Trede und Plähn sind zwei der Protagonisten, die Sung-hyung Cho in heimischem Dialekt Rede und Antwort stehen. Plähn erklärt der Filmemacherin geduldig den Unterschied zwischen Kühen und Kälbern und macht ganz nebenbei auf die Missstände in der zunehmend unrentabler werdenden Milchwirtschaft aufmerksam. Uwe Trede, dessen Auftritt sich durch einen wackeren Husten ankündigt, war der erste mit einer eigenen Biodieselanlage. Der geschäftstüchtige Landwirt verdient sich mit kleinen Aktiengeschäften ein Zubrot und verrät zwischen zwei Zigarettenzügen ("Solang ich huste, lebe ich noch") agrarökonomische Überlebensstrategien oder Wissenswertes über Frauen. Persönlich und humorvoll porträtiert
Full Metal Village die eigensinnige Wackener Bevölkerung und reflektiert dabei zugleich den strukturellen Wandel in der heutigen Landwirtschaft.
Selbstbild im Wandel
Die als zugeknöpft geltenden Norddeutschen erweisen sich im Gespräch als überaus charmant, aufgeschlossen und humorvoll. Mehr und mehr verfestigt sich der Verdacht, dass dies auch etwas mit dem Festival zu tun hat. Die alljährliche Konfrontation mit einer anderen Lebensform hat offenbar ihr Selbstbild verändert, verleiht dem Dorf einen Hauch von Internationalität. Mit der alten, auf Gemütlichkeit bedachten Mentalität und Bauernschläue wagt man sich an neue Formen der Kommunikation. Für die wenigen jungen Leute, wie Irma Schaaks 16-jährige Enkelin Katrin, ist der Zweck des Open Air rein praktischer Natur: Auf dem Land ist nicht viel los. Sie würde gerne mal Urlaub machen "in Bayern oder so". Noch lieber würde sie – fasziniert von den Fluchtgeschichten ihrer ostpreußischen Großmutter – als Beobachterin wenigstens eine Stunde im Zweiten Weltkrieg verbringen. Das dreitägige W:O:A bietet ihr im August immerhin eine kleine willkommene Abwechslung.
Seelenbild eines Landstrichs
Ein martialisches Heavy-Metal-Festival als Ersatzbefriedigung alterstypisch-bizarrer Jugendwünsche? Der größte Vorzug des klug komponierten Films ist seine offene Form, die nicht nur eine Interpretation zulässt. Sung-hyung Cho stellt kaum Fragen zum Festival und gibt ihren Protagonisten/innen Raum zur Entfaltung. Wacken als strukturschwache Region, die das phonstarke Massenaufkommen nicht nur toleriert, sondern auch braucht – ein solcher Zusammenhang etwa erschließt sich weniger durch konkrete Informationen als vielmehr intuitiv. Was eine bloß abbildhafte Reportage hätte sein können, entpuppt sich so als anspruchsvolles Seelenbild eines Landstrichs und seiner Bewohner/innen. Als im doppelten Sinn "Fremde" – die Koreanerin lebt in Frankfurt – scheint Sung-hyung Cho einen ethnologischen Blick zu haben für das Wesentliche und für Zwischentöne, die den Einheimischen oft entgehen. Hat Bauer Plähn jemals bewusst darüber nachgedacht, was Liebe für ihn bedeutet? Einer fremden Frau gibt er sogar darüber bereitwillig Auskunft. Ironische Brüche sind dabei unvermeidlich und auch gewollt.
Ein Heimatfilm
Erst am Ende des dramaturgisch dichten Dokumentarfilms steht der Beginn des Festivals, der Einfall der Metal-Fans, der kontrollierte Zivilisationsbruch "made in Wacken". Zahlreiche Teilnehmer/innen sind bereits betrunken. Die Metaller brüllen, tanzen und werfen mit Bierdosen, während alteingesessene Wackener die Festivalfahne aus dem Fenster hängen oder zur Begrüßung beide Hände zum szenetypischen "Teufelsgruß" emporrecken. Als die Blaskapelle der freiwilligen Feuerwehr aufspielt, üben beide Seiten ihre bekannten Rituale: Die einen schunkeln, die anderen werfen ihre langen Haare im "Moshpit" bis zum Bühnenrand. Zwar hat Sung-hyung Cho keinen einzigen der Metal-Fans befragt. Aber in diesen Szenen einer fröhlichen Entgrenzung wird auch so ein Stück Utopie sichtbar: Selten gestaltet sich der Kontakt verschiedener Lebensstile so harmonisch wie bei diesem Festival. Man hat sich aneinander gewöhnt. Die Unterschiede zweier Kulturen wurden von der Musik nicht nur übertönt, sondern überbrückt. Für die Heavy-Metal-Gäste wie für die Einheimischen ist Wacken ein Stück Heimat. Und so ist
Full Metal Village, auch in diesem Sinne, ein Heimatfilm.
Autor/in: Philipp Bühler, 29.03.2007