Hintergrund
Der Schriftsteller Ernst Erich Noth
Ernst Erich Noth, mit bürgerlichem Namen Paul Krantz, wird 1909 in Berlin geboren. Er wächst im proletarischen Milieu auf, die sechsköpfige Familie lebt in einer Zweizimmerwohnung in einer der berüchtigten Berliner Mietskasernen. Das Elend betrifft nicht nur das Wohnen, sondern alle Aspekte des Lebens: Bedingt durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und die Krisen der ungefestigten Weimarer Republik – Inflation und Wirtschaftskrise, verbunden mit einer stetig steigenden hohen Arbeitslosigkeit – sind die Jahre der Kindheit und Jugend geprägt von größter Not und Verzweiflung, von Verwahrlosung und der Erfahrung, auf sich allein gestellt zu sein. Die Ernährungssituation ist katastrophal, es herrschen extremer Hunger und soziales Elend. Hunderte Menschen sterben täglich, etliche nehmen sich aus Resignation das Leben. Dies sind die Umstände, unter denen Paul Krantz aufwächst und die er auch in seinen Schriften darstellen wird.
Klassenunterschiede
Aufgrund seiner überdurchschnittlichen Begabung erhält der Schüler Paul Krantz durch die von der SPD neu eingeführte Begabtenförderung für mittellose Volksschüler die Möglichkeit, als "Freischüler" ein Gymnasium zu besuchen. Für den Schüler bringt das zunächst neue Konflikte mit sich: "Als man uns paar Armeleutekinderchen das Privileg verschaffte, die bunte Mütze eines Gymnasiasten zu tragen, entfremdete uns dieses Wahrzeichen lediglich unserem Stand, ohne dass wir in denjenigen unserer begüterten Mitschüler aufrücken durften. Dieser psychologische Komplex ... stellte ... die schwerste Belastung dar." ("Erinnerungen eines Deutschen", S. 36) Dieser Konflikt ist jedoch gemildert, als er Anschluss an einige Schulkameraden findet. Er wird wegen seines Wesens geschätzt – und wegen der Gedichte, die er schreibt.
Das Trauma der Steglitzer Schülertragödie
Am 28. Juni 1927 kommt es zur so genannten Steglitzer Schülertragödie und daraufhin zum "Krantz-Prozess". Diese "Tragödie", für die er in den 1971 erschienenen "Erinnerungen eines Deutschen" eine "moralische Mitverantwortung" ausspricht, bewirkt ein tiefes Trauma und eine Zäsur im Leben des Schriftstellers. So nimmt er von seinem Wunsch Abstand, Dichter zu werden beziehungsweise zu bleiben; fortan betrachtet und bezeichnet er sich als "Schriftsteller" und schreibt nur noch vereinzelt Gedichte. Abgesehen von seinem Bericht "Mein Prozess", den er mit seinem bürgerlichen Namen zeichnet, und seinen Beiträgen für die "Frankfurter Zeitung" – wird er fortan unter dem Pseudonym Ernst Erich Noth veröffentlichen, das mit der späteren Einbürgerung in die Vereinigten Staaten auch zu seinem bürgerlichen Namen wird.
Erster Roman und Bücherverbrennung
Um den Schüler nach den Anstrengungen der Haft und des Prozesses zu schonen, ermöglicht ihm die Stadt Berlin durch ein Stipendium den Besuch der Odenwaldschule, einer freien Schulgemeinde, die nach den Prinzipien der Reformpädagogik geführt wird. Hier lernt er Klaus Mann, die Kinder von Käte Kruse und den Sohn von Ernst Barlach kennen. 1929 nimmt er das Studium der Germanistik an der Frankfurter Universität auf und wird freier Mitarbeiter des Feuilletons der Frankfurter Zeitung, hier benutzt er das Pseudonym Albert Magnus. Er ist aktives Mitglied im Sozialistischen Studentenbund. Bereits während des Studiums, 1931, erscheint sein erster, stark autobiografisch geprägter Roman "Die Mietskaserne" unter dem Pseudonym Ernst Erich Noth. Der Roman wird ein großer Erfolg und in sechs Sprachen übersetzt. Am 10. Mai 1933 gehört er zu den ersten von den Nazis verbrannten Büchern und wird verboten.
Dissertation zum Thema Jugend
Im Februar 1933, kurz nach der "Machtergreifung", wird Noths Dissertation "Die Gestalt des jungen Menschen im deutschen Roman der Nachkriegszeit" angenommen; sie bleibt bis 1971 unveröffentlicht. Zur mündlichen Prüfung kommt es nicht, denn Noth muss in der Nacht vom 4. auf den 5. März 1933 vor den Nationalsozialisten fliehen. Das Exil führt den 24-Jährigen zunächst nach Paris, dann nach Südfrankreich. 1934 erscheint sein Essay "Die Tragödie der deutschen Jugend" in französischer Übersetzung. Wie schon in seinem autobiografischen Roman und in seiner Dissertation gilt sein besonderes Interesse auch in diesem Essay dem Thema "Jugend". Dieses Thema war nicht nur seit Ende des 19. Jahrhunderts sehr populär und viel diskutiert, es gab zugleich die "Praxis", die zum Entstehen der Jugendbewegung führte. Darüber hinaus mag für Noth die Reflexion der "Jugend" von besonderem persönlichem Interesse gewesen sein, nicht zuletzt weil er selbst in seiner Jugend durch den "Krantz-Prozess" in schwerste Verstrickungen geraten war, die zudem internationales öffentliches Aufsehen erregten.
Der Roman "Die Mietskaserne"
"Die Mietskaserne", der Roman des 22-Jährigen, war dem Stil der Neuen Sachlichkeit verpflichtet. Er stellt die Kindheits- und Jugendgeschichte vor dem Hintergrund des sozialen zeitgeschichtlichen Zusammenhangs dar, zeigt die so divergenten Existenzbedingungen im trostlosen Milieu der Mietskaserne – wiederkehrende Chiffre für die Verelendung des Proletariats – und der gutbürgerlichen Welt der höheren Schule. Die als "Emporkömmlinge" betrachteten Protagonisten Walter und Albert erleiden Isolierung durch ihre Mitschüler und Schikanen durch eine teilweise reaktionär eingestellte Lehrerschaft. Die Schüler fallen durch ihre abgerissene Kleidung und mangelnde Hygiene auf. Für die obligatorischen Hefte reicht das Geld der Eltern nicht, was Schulstrafen nach sich zieht. Die Fluchtwege aus dieser Realität bestehen in der Betäubung durch Alkohol, "Liebe", dem trügerischen "Gemeinschaftsgefühl" in einer rechten Wehrorganisation. Der dann tatsächlich gefundene Ausweg aus dieser Realität lautet für Walter Selbstmord, für Albert hingegen Neuanfang: der Aufbruch in eine andere Stadt, an eine Universität.
Der Essay "Die Tragödie der deutschen Jugend"
Noths Essay "Die Tragödie der deutschen Jugend" richtet sich an ein französisches Publikum, dem es die Entwicklung begreifbar machen will, welche die deutsche Jugend seit Beginn der Jugendbewegung mit ihren freiheitlichen Idealen genommen hat bis hin zu ihrem Ende im "gleichgeschalteten" Marsch in den Sturmtruppen eines Adolf Hitler. Noth zeichnet diese Entwicklung für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration nach, analysiert die vielen verschiedenen Organisationsformen im politischen Spektrum, die sich mit dem Anwachsen der Arbeits- und Perspektivlosigkeit der Jugend in der Weimarer Republik verstärkten. Seine Überlegungen suchen letztendlich nach Antworten auf die Frage: "Was hat die jungen Menschen in die SA und zu Hitler getrieben?"
Exil in Frankreich
Im Exil findet Noth Zugang zu französischen Schriftstellerkreisen, er schreibt mehrere Romane und Essays in französischer Sprache und regelmäßig in französischen Zeitschriften, wie "Les Nouvelles Littéraires", "Vendredi", "Europe", "Temps Présent" und in Marseille in den "Cahiers du Sud"; von 1935 bis 1940 ist er als einziger Nicht-Franzose Redaktionsmitglied der angesehenen "Cahiers".
Emigration in die USA und Rückkehr nach Deutschland
Im August 1941 kann Noth nach mehrfacher Internierung in die USA emigrieren. Bereits im Dezember tritt er die Stelle als Leiter der deutschsprachigen Kurzwellensendungen der National Broadcasting Company an. Von 1949 bis 1959 ist er als Chefredakteur und Herausgeber der Literaturzeitschrift "Books Abroad" und zugleich als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Oklahoma tätig, von 1959 bis 1963 an der Marquette University in Milwaukee, Wisconsin. 1963 kehrt er nach Europa zurück und arbeitet als Lektor und Dozent an den Universitäten Aix-en-Provence, Marseille und Paris. 1971 erhält er einen Ruf seiner alten Frankfurter Universität und nimmt an. An der Johann-Wolfgang-Goethe Universität lehrt er von 1971 bis 1980, zunächst als Gast-, dann als Honorarprofessor. Ernst Erich Noth stirbt am 15. Januar 1983 in Bensheim an der Bergstraße.
Literaturhinweise:
Die Mietskaserne. glotzi Verlag, Frankfurt/Main 2003 Die Gestalt des jungen Menschen im deutschen Roman der Nachkriegszeit. Inaugural-Dissertation, 1933 vorgelegt von Paul Krantz (d. i. Ernst Erich Noth). glotzi Verlag, Frankfurt/Main 2001 Die Tragödie der deutschen Jugend. Essay. glotzi Verlag, Frankfurt/Main 2002 Erinnerungen eines Deutschen. Claassen Verlag, Hamburg/Düsseldorf 1971 Paul Krantz 1928 1934 1939 1982
Fotonachweis:
glotzi-Verlag
Autor/in: Linda Schmidtke, 21.09.2006