Der siebenjährige Joey lebt in New York. Er liebt Pferde, wäre gerne ein richtiger Cowboy und wünschte, dass sein großer Bruder Lennie öfter mit ihm spielen würde. Als sich die Mutter der beiden um die kranke Oma kümmern muss, sind die Geschwister für einen Tag und eine Nacht auf sich gestellt. Lennie, der nicht schon wieder auf Joey aufpassen will, heckt mit seinen Freunden einen Streich aus: Joey soll glauben, mit einem "echten" Gewehr einen Schuss abgefeuert und Lennie dabei getötet zu haben. Der Plan geht auf, Joey flieht. Mit sechs Dollar in der Tasche strandet er allein in Coney Island. Im
Vergnügungspark am Südstrand von Brooklyn taucht er in der Masse unter und verliert sich im Spiel. Bald schon hat er vergessen, dass er vermeintlich auf der Flucht ist. Er fährt Karussell, übt Dosenwerfen, isst Zuckerwatte und beobachtet die Menschen um sich herum. Als ihm das Geld ausgeht, sammelt er Pfandflaschen, um weitere Runden Ponyreiten bezahlen zu können. Doch bald beginnt der Pferdebesitzer Jay sich zu wundern und Lennie alles daran zu setzen, seinen kleinen Bruder wiederzufinden.
In einer Kombination aus neugierig-staunendem Spiel und
dokumentarischem Blick erzählt
Little Fugitive von den Jahrmarkt-Abenteuern eines kleinen Ausreißers und der Freizeitgestaltung in den USA der 1950er-Jahre. Das Gemeinschaftswerk der Fotograf/-innen Ruth Orkin und Morris Engel und des Schriftstellers Ray Ashley gilt als Schlüsselwerk des US-amerikanischen Independent-Kinos und Vorreiter der französischen
Nouvelle Vague. Gedreht mit
Laiendarstellern und einer
35mm-Handkamera, die sich Morris Engel an der Hüfte anbrachte, wurden eindrucksvolle
Schwarz-Weiß-Aufnahmen eingefangen, die die Welt aus Kinderaugen zeigen – mit Erwachsenen ohne Köpfe, Buden und Fahrgeschäften aus der
Untersicht und beobachtenden
Detailaufnahmen von Menschen, die spazieren gehen und baden, von Paaren, die sich sonnen und küssen. Die ausschnitthafte, kindliche Wahrnehmung der Welt wird auf der
Tonebene verstärkt. Auf eine umfassende Atmo wurde verzichtet, Geräusche und Dialoge sind nachträglich im Studio produziert. Auch die
Musik – oft von einzelnen Instrumenten gespielte einfache Melodien – überträgt Leichtigkeit und lenkt den Blick in der geradlinigen Erzählung auf das Einzelne im großen Ganzen.
Little Fugitive bietet je nach Zielgruppe unterschiedliche Gesprächsanlässe. Dabei ist zu beachten, dass der Film, der meist in kurzen Dialogen erzählt, ausschließlich in der OmU-Fassung erscheint, was den Zugang für jüngere Kinder erschweren kann. Mit ihnen kann in den sprachlichen und lebenskundlichen Fächern vor allen über Geschwisterbeziehungen oder das Motiv des Ausreißens gesprochen werden. Der Streich als Wendepunkt lässt sich dabei als Einstieg nutzen: Was erlebt Joey davor und danach? Wen und was lernt er in Coney Island kennen? Und was verändert sich mit den einzelnen Stationen im Vergnügungspark durch die Beobachtungen und Begegnungen für den Jungen? Für höhere Klassenstufen bieten sich sowohl gesellschaftspolitische wie filmhistorische Anknüpfungspunkte. Als Zeitdokument öffnet der Film wertvolle Einblicke in die Alltags- und Freizeitgesellschaft der damaligen Zeit. In einem intermedialen Vergleich können im Kunstunterricht Film und fotografische Arbeit von Ruth Orkin und Morris Engel betrachtet werden. Nicht zuletzt lässt sich anhand von Parallelen zu Arbeiten französischer Filmschaffender dieser Zeit der Einfluss des Films auf die Nouvelle Vague herausarbeiten.
Arbeitsblatt zu Little Fugitive
Fächer: Deutsch, Kunst, ab 3. Klasse, ab 8 Jahren
Vor der Filmsichtung:
a) Seht euch das Filmplakat an. Beschreibt, was ihr seht. Worum könnte es in dem Film gehen?
b) Habt ihr schon einmal einen Film in der Originalversion mit Untertiteln (OmU) gesehen? Wenn ja, wie war das? Wenn nein, was denkt ihr, wie das ist?
c) Wisst ihr, wo Coney Island liegt und wofür es berühmt ist? Seht euch mit
Google Street View an, wo Coney Island genau liegt und was es dort zu sehen gibt.
d) Wenn man einen Film dreht, ist es nicht nur wichtig sich zu überlegen, was man filmen möchte, sondern auch wie man es filmen möchte. Je nachdem von wo die Kamera etwas aufnimmt, sieht dies unterschiedlich aus und wirkt auch anders. Man nennt das die Kameraperspektive. Die häufigsten
Kameraperspektiven sind: Die Normalperspektive/Normalsicht - hier ist die Kamera auf Augenhöhe mit dem Gefilmten. Die Aufsicht: Hier blickt die Kamera von oben auf das Geschehen. Die Untersicht: Hier blickt sie von unten auf das Geschehen.
Seht euch die Filmstills (Standfotos) an und findet heraus, von wo die Kamera auf das Geschehen blickt und beschreibt, welche Wirkung das auf euch hat. Wirken die gezeigten Personen dadurch groß oder klein?
Während der Filmsichtung:
e) Achtet arbeitsteilig während ihr den Film seht auf Folgendes:
1. Was erlebt Joey im Verlauf des Films?handlung Wie fühlt er sich dabei?
2. Findet heraus, in welchen Momenten der Filmhandlung die obigen Filmstills vorkommen.
Optional: Findet heraus, welche Kameraperspektive im Film besonders oft zum Einsatz kommt.
Macht euch während und unmittelbar nach der Filmsichtung stichpunktartige Notizen.
Nach der Filmsichtung:
f) Gibt es etwas, das euch besonders gefallen und/oder überrascht hat?
g) Tauscht euch zu zweit über die erste Beobachtungsaufgabe (Aufgabe e) aus. Vergleicht dann alle zusammen Joeys Erlebnisse, mit dem, was ihr in eurem Leben erlebt. Nennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
h) Tauscht euch nun in der Klasse über die zweite Beobachtungsaufgabe aus. Findet ihr die Kameraperspektiven passen zur Filmhandlung? Warum oder Warum nicht?
Optional:
i) Ruth Orkin und Morris Engel, die den Film zusammen mit Ray Ashley gedreht haben, waren erst Fotografen. Erst später fingen sie mit dem Filmemachen an. Begebt euch auf ihre Spuren und übt das Fotografieren.
1. Sucht euch zusammen ein Thema aus (z.B. das Leben in eurem Klassenzimmer der Schule, der Jahrmarkt/Weihnachtsmarkt, eure Kinderzimmer)
2. Entscheidet, ob ihr in Schwarz-Weiß oder in Farbe fotografieren wollt.
3. Wählt in Einzelarbeit ein Motiv aus, das zum Thema passt (das kann z.B. der Tafelschwamm sein, eine Zuckerwatte, ein Kuscheltier).
4. Fotografiert das Motiv (z.B. mit eurem Handy oder mit einem Fotoapparat) nun einmal von unten (Untersicht), einmal auf Augenhöhe (Normalsicht) und einmal von oben (Aufsicht). Wenn ihr z.B. Hilfe dabei braucht, den Gegenstand von oben zu fotografieren, fragt eure Lehrkraft.
5. Druckt die Fotos aus.
6. Bildet einen Stuhlkreis und legt nun vorsichtig alle Fotos in die Mitte.
7. Ordnet die Fotos den drei großen Plakaten "Normalsicht", "Aufsicht" und "Untersicht" zu.
8. Gestaltet die drei Plakate, indem ihr im Tandem die Fotos kreativ anordnet und eine große Überschrift "Kameraperspektiven zum Thema XY" für alle drei Plakate anfertigt.
9. Hängt alles im Klassenzimmer auf.
j) Betrachtet die Fotos erneut und wählt das Foto aus, das euch am meisten anspricht.
• Schreibt auf schönes Papier einen kurzen Text darüber, warum ihr dieses Foto ausgewählt habt. Geht dabei auch auf die Perspektive und auf die Wirkung, die das Foto auf euch hat, ein.
• Rollt euren Text ein und hängt ihn unter das von euch ausgewählte Foto und bringt ihn so an, dass man den Text einfach ausrollen und lesen kann, wenn man will.
Fertig ist eure kleine Ausstellung zu den verschiedenen Kameraperspektiven!
Autor/in: Lisa Haußmann (Filmbesprechung), Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 18.12.2023
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.