Kroko ist cool. So cool, dass sie fast allen auf die Nerven geht. In ihrer Mädchengang ist Julia, genannt "Kroko", jedoch der Star. Sie ist 17 und Mittelpunkt einer Clique, die den Berliner Stadtteil Wedding durchstreift und brutale Überfälle und kleinere Diebstähle begeht. Kroko hat lange blonde Haare, läuft im schrillen Outfit einer Kiezgöre herum und gebärdet sich arrogant, gelangweilt, zynisch und sehr aggressiv. Einzig ihr Freund Eddie wird von ihr respektiert. Die anderen dagegen sind nur Anhang wie Marlene, ihre Freundin, die zu Kroko aufschaut, oder der dicke Rolle, der von den anderen zwar geduldet, aber immer wieder auch wegen seines Aussehens gehänselt wird.
Spaß gegen Langeweile
Kroko und ihre Clique haben eigentlich nur ein Ziel: die quälende Langeweile, die Leere des Alltags zu verdrängen. Discobesuche und Partys, Herumhängen und "die Zeit totschlagen", auf andere Beschäftigungen haben sie keinen Bock. Arbeiten ist "uncool", ganz besonders die "Ausbildungskacke". Zu Hause ist es für Kroko am Schlimmsten. Ihre überforderte Mutter nervt sie mit Vorwürfen und Vorschriften und auch ihre kleine Schwester geht ihr zunächst nur auf den Wecker.
Ohne Skrupel
Bei einer nächtlichen Discotour baut Kroko einen Unfall. Sie fährt mit einem "geborgten" Auto einen Passanten an und verletzt ihn schwer. Aber sogar vor Gericht gibt sie sich betont desinteressiert, Schuldgefühle sind ihr fremd. Mehr als ein genervtes Zucken mit den Augenbrauen hat sie für die Staatsanwältin nicht übrig. Doch Kroko ist minderjährig, und so fällt die Strafe vergleichsweise milde aus: 60 Stunden Sozialdienst in einer Behinderten-Wohngemeinschaft.
Überforderung und Veränderung
In der Wohngemeinschaft wird Kroko radikal mit für sie neuen Situationen konfrontiert. Bei den täglichen Pflichtbesuchen dort und während eines Wochenendausflugs mit der Gruppe kommt sie psychisch an ihre Grenzen, denn sie ist den ungewohnten Aufgaben und der Übernahme von Verantwortung in keiner Weise gewachsen. Die Behinderten leben und verhalten sich ganz anders als die Freunde ihrer Clique. Sie sind direkt und zugleich verletzlich, reagieren offen und ohne Scheu – ohne coolen Panzer. Langsam setzt bei Kroko ein Veränderungsprozess ein: Zwar wird aus der zickigen Straßengöre nicht über Nacht eine barmherzige Samariterin im Sinne von "grober Mensch wird durch die Begegnung mit behinderten Menschen geläutert", doch über das stille Beobachten, das Registrieren der so gegensätzlichen Verhaltensweisen, ändern sich auch ihre Reaktionen. Kroko wird aufmerksamer ihrer Umwelt gegenüber, nimmt Anteil an den Bedürfnissen anderer.
Annäherung und Distanzierung
Die Situation spitzt sich zu, als Kroko verbotenerweise den Rollstuhlfahrer Thomas mit Alkohol versorgt und dieser daraufhin einen epileptischen Anfall bekommt. Kroko ist hilflos und zeigt erstmals Betroffenheit. Die Arbeit in der WG führt auch zu wachsender Distanz innerhalb des Beziehungsgeflechts ihrer Clique. Ihr Freund Eddie verlässt sie und der Abstand zu den übrigen Freunden wird größer. Dagegen findet eine langsame Wiederannährung an ihre Mutter statt – das zumindest deutet die letzte Szene des Films an.
Ein ungewöhnlicher Jugendfilm
Der 1965 in Brandenburg geborenen Regisseurin Sylke Enders ist mit
Kroko ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt gelungen. Der Film ist einerseits ein durchaus typischer Erstlingsfilm, der frisch, unverbraucht und ohne formalen Perfektionismus die Thematik der pubertierenden Heranwachsenden aufgreift. Auf der anderen Seite ist
Kroko aber von einem ungewöhnlich nüchternen Realismus gezeichnet, der mit dem sonst so oft gezeigten, romantisierenden Blickwinkel vieler Jugendfilme kaum etwas gemein hat.
Kroko ist von schnörkelloser Authentizität, die Bilder verzichten auf jede Schönfärberei. Die Handkamera ist immer dicht dran an den Figuren. Das Umfeld der Weddinger Clique ist trist, grau und hässlich.
Authentische Darstellung
Sein hohes Maß an Authentizität verdankt der Film auch dem Spiel der Darsteller/innen, die teilweise zum ersten Mal vor der Kamera standen. Insbesondere das Zusammentreffen der behinderten Darsteller/innen und der jungen Laiencrew verleiht dem Film eine Authentizität, die niemals gestellt wirkt und in vielen Sequenzen fast dokumentarischen Charakter annimmt. Die behinderten Schauspieler/innen, Mitglieder des Berliner Theaters Thikwa, spielen sich praktisch selbst. Und Hauptdarstellerin Franziska Jünger kann mit Fug und Recht als Leinwandentdeckung bezeichnet werden. Ihre an die Grenzen der Erträglichkeit gehende Coolness und ihre Rücksichtslosigkeit machen sie zunächst zur unsympathischen Hauptfigur, aber auch zur faszinierenden Antiheldin.
Glaubwürdige Wandlung
Für die Regisseurin war es eine Herausforderung, aus einer solchen Negativfigur, die ihre Gefühle nicht herauslassen kann, eine zu machen, die sich positiv entwickelt. Durch den sehr behutsam in Szene gesetzten psychologischen Wandel gewinnt Kroko im letzten Teil des Films an Sympathie. Die eigentliche Leistung dieses Debütfilms besteht darin, dass diese Veränderung ohne moralisierenden Zeigefinger erzählt wird und dass er auf jegliche Klischees verzichtet.
Autor/in: Joachim Kürten, 01.03.2004