Tina Braun (li), Isabel Tebarth, Renate Schröder
Tina Braun, Abteilungsleiterin der Stufe 5-7, Renate Schröder, Fachkonferenzvorsitzende des Fachs Deutsch, und die Förderschullehrerin Isabel Tebarth arbeiten an der Gemeinschaftsschule Billerbeck in Nordrhein-Westfalen. Die "Schule für alle" unterrichtet Kinder der Sekundarstufe I mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam und in integrierter Form. Ziel ist es, jede Schülerin und jeden Schüler seinen Leistungen und Neigungen entsprechend zu fördern.
In Ihrer Schule werden die Schülerinnen und Schüler ohne Trennung nach Schulformtypen unterrichtet. Wie sieht das genau aus?
Tina Braun: Wir arbeiten mit sogenannten Bausteinen, das sind thematisch-fachliche Einheiten, die sich aus Modulen zusammensetzen. In diesen Modulen finden sich eine Differenzierung in qualitativer Form und eine Neigungsdifferenzierung. Die Bausteine haben insgesamt vier Niveaustufen. Unsere Schülerinnen und Schüler dürfen sich dann selber aussuchen, auf welchem Schwierigkeitsgrad sie arbeiten wollen. Für die inklusiven Schülerinnen und Schüler ist ein bestimmtes Niveau vorgesehen, das sogenannte 1-Sterne-Niveau.
Warum kann besonders die Arbeit mit Filmen wertvoll für Inklusion sein?
Isabel Tebarth: Medien haben einen großen Einfluss auf Jugendliche. Gerade Film ist wichtig, Förderkinder sollten da nicht ausgeschlossen werden. Für Schülerinnen und Schüler mit kognitiven und sprachlichen Beeinträchtigungen, zum Beispiel schwache Leser oder Nichtleser, erleichtert Film den Zugang zur Literatur. Filme sind für sie oft besser zu verstehen als Bücher und so bieten sich Literaturverfilmungen als zusätzliche Hilfe zum Verständnis an.
Wie haben sie Ihre Unterrichtsreihe zu Anne liebt Philipp gestaltet? Wie sind Sie hier vorgegangen?
Renate Schröder: Wir haben zunächst das sehr ausführliche Unterrichtsbegleitmaterial gesichtet. Es war hilfreich, darauf zurückgreifen zu können, und auch der Film selbst hat sich toll geeignet. Bei den Lernschritten des Bausteins, den wir daraus entwickelt haben, war wichtig, dass sie bestimmte Bereiche des Lehrplans abdeckten. Es wurden dann jeweils vier unterschiedliche Lernniveaus angeboten. Hier ging es darum, sowohl in der Qualität zu differenzieren, also im inhaltlichen Anspruch, als auch in der Quantität, das heißt im Umfang. Außerdem war wichtig, individuelle Neigungsschwerpunkte zu berücksichtigen und die Aufgaben in deutlicher Form auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Am Ende des Bausteins konnten sie sich in kooperativen Lernformen und meist auch kreativ mit dem Film auseinandersetzen.
Würden Sie also sagen, dass sich gerade kooperative Lernformen gut für inklusive Filmbildung eignen?
Renate Schröder: Ja, sie sind ein ganz wichtiger Punkt in unserer schulischen Arbeit, auch als Methode inklusiver Filmbildung. In dieser Lernform klappt es besonders gut, die Zusammenarbeit von inklusiven Schülerinnen und Schülern und Regelschulkindern zu fordern und zu fördern und der Heterogenität der Lerngruppen Rechnung zu tragen. Das gemeinsame Lernen bedeutet hier auch, dass stärkere Schülerinnen und Schüler die Schwächeren unterstützen können.
Welchen Gewinn können die Regelschulkinder aus dem inklusiven Unterricht beziehungsweise der inklusiven Filmbildung ziehen?
Tina Braun: Auch die Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf profitieren vom gemeinsamen Unterricht, sie können soziale Kompetenzen und Toleranz im täglichen Alltag einüben, ohne in ihren fachbezogenen Schulleistungen nachzulassen. Bei der gemeinsamen Bearbeitung des Bausteins zum Film
Anne liebt Philipp haben sie erfahren, dass sie alle ähnliche Interessen und Ansichten haben, unabhängig davon, ob sie eine Beeinträchtigung haben oder nicht. Filme, die die Thematik "Behinderungen" behandeln, sensibilisieren sie.
Wofür?
Tina Braun: Dafür, dass Verschiedenheit zum Leben dazu gehört und dass keiner ausgegrenzt werden sollte. Jeder hat Stärken und Schwächen und kann sich damit einbringen.
Besteht in der Realität nicht trotzdem die Gefahr, dass sich einzelne Schülerinnen und Schüler oder Lerngruppen im Vergleich zu den Anderen abgewertet oder ausgegrenzt fühlen?
Isabel Tebarth: Nach unserer Erfahrung sind Kinder mit Behinderungen dann isoliert, wenn sie über längere Lernphasen unter sich bleiben. Außerdem müssen alle ein Gefühl dafür entwickeln, dass "behindert sein" nicht bedeutet, schlechter zu sein. Die inklusiven Schülerinnen und Schüler unterliegen zwar anderen Bewertungsmaßstäben, allerdings spielt der direkte Leistungsvergleich mit Regelschülerinnen und -schülern keine Rolle. Unterschiedlichkeit in der Leistungsfähigkeit ist für uns eine Selbstverständlichkeit, und es ist wichtig zu vermitteln, dass jeder auf seinem passenden Lernniveau arbeitet. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, ihre individuellen Lernfortschritte einzuschätzen und Herausforderungen zu suchen, aber auch, mit ihren eigenen Schwächen umzugehen, sich zu akzeptieren und sich gegen Abwertungen zu wehren.
Heißt das, Sie thematisieren die Beeinträchtigungen ganz besonders?
Isabel Tebarth: Nein, ganz im Gegenteil. Die Handicaps sollten nicht immer in den Vordergrund gerückt werden. An unserer Schule werden die Beeinträchtigungen nicht stärker berücksichtigt als andere Themen, die der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler entspringen.
Benötigt inklusive Filmbildung in der Schule einen großen zeitlichen Rahmen oder lassen sich die Aufgaben auch in kurzen Unterrichtseinheiten realisieren?
Renate Schröder: Das Thema "Zeit" war bei uns schon eine große Herausforderung. Da die Schülerinnen und Schüler den Baustein selbstständig bearbeitet haben, mussten wir vorher abschätzen, wie lange sie ungefähr für die einzelnen Lernschritte benötigen würden. Projekttage oder stärker ausgerichtetes projektorientiertes Arbeiten eignen sich wohl am besten. Dort sind die Gruppen kleiner, man hat mehr Zeit und längere Arbeitsphasen. Zudem muss gut organisiert werden, wann man gemeinsam den Film schaut. Bei uns gab es kaum Möglichkeiten, dass sie ihn sich noch einmal ansehen konnten, auch nicht einzelne Filmsequenzen.
Wo stößt inklusive Filmbildung an ihre Grenzen?
Isabel Tebarth: Filme sind wahrscheinlich kein geeignetes Medium für den Unterricht mit schwerst mehrfachbehinderten oder sehbeeinträchtigen Kindern und Jugendlichen.
Was würden Sie sagen, ist das Grundziel von inklusiver Filmbildung?
Tina Braun: Das Grundziel sollte sein, dass ein Film und seine Botschaft in handlungs- und produktionsorientierter Weise ganzheitlich erschlossen werden und auf die eigene Lebenswelt übertragen werden kann. Filme sollten nicht zu "abgehoben" sein und sprachlich und inhaltlich gut zu verstehen sein. Wichtig ist, dass sie aus der Lebenswirklichkeit der Kinder sind. Und inklusive Filmbildung sollte für jeden etwas bieten – von einfach bis anspruchsvoll – und etwas kooperatives, für alle zusammen.