Es ist Sommer. Sich selbst überlassen streifen zwei Jungen, etwa zehn Jahre alt, durchs Niemandsland in der kanadischen Provinz. Ein alter Waggon auf einem stillgelegten Gleis wird zu ihrer Arena: Wer den anderen am häufigsten reinlegt, gewinnt. Tyler schließt Benjamin in der Toilette ein. Es steht 2:1. Doch Benjamin holt auf. Er springt vom Waggon und mimt so überzeugend eine Beinverletzung, dass Tyler sich ernsthaft Sorgen macht. Punkt für Benjamin! Als Benjamin auch noch einen Fuchs zu sehen behauptet, glaubt Tyler ihm nichts mehr. Die beiden foppen sich weiter – freundschaftlich einerseits, kräftemessend andererseits.
Zwischen kindlicher Unschuld und Männlichkeitsritualen
Fauve, der französischsprachige Originaltitel des Films, bedeutet übersetzt sowohl "Raubtier" als auch "fahlgelb", wie etwa die Farbe eines Rehs. Der Titel wirft seinen Schatten auf die Handlung voraus und verweist auf primitive Verhaltensmuster des Menschen. Bei ihren von hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen geprägten Körper- und Wortgefechten umlauern sich die Jungen dementsprechend wie Jäger und Gejagte, stets pendelnd zwischen Freundschaft und Konkurrenz, kindlicher Unschuld und kühler Berechnung. Unterstrichen wird das Spannungsfeld durch ihre Kleidung: Tylers "animalisch" nackter Oberkörper und kahlrasierter Schädel stehen visuell im Gegensatz zu Benjamins orangefarbenem T-Shirt und adrettem Haarschnitt.
Klassische Spannungsdramaturgie
Anfangs mutet
Fauve durch ausdrucksvolle Laiendarsteller, Dialoge in authentischer Alltagssprache und originale
Schauplätze realistisch an. Im Folgenden fügt sich der Film des frankophonen kanadischen Regisseurs Jérémy Comte dann weitestgehend in eine sorgsam konstruierte Dramenstruktur ein und schöpft diesen klassischen Erzählrahmen beispielhaft aus.
Nachdem die
Eröffnungsszene die Figuren und als mögliches Konfliktpotenzial "toxische Männlichkeit" – ein eindimensionales, auf Stärke und Wettbewerb ausgerichtetes Männlichkeitsbild – präsentiert hat, spitzt sich die Handlung mit dem Schauplatzwechsel zu. Tyler und Benjamin entdecken einen Tagebau mit tiefer Grube und leuchtend blauem See. Unten angekommen bleibt Tyler im klebrigen Uferschlamm stecken. Ein erneutes Kräftemessen als erregendes Moment beginnt.
Natur gegen Mensch
Die Lage eskaliert, als aus Spiel und Leichtsinn Lebensgefahr wird. Denn kaum hat sich Tyler mit Mühen aus dem Schlamm befreit, schubst er Benjamin hinein, der nun darin zu versinken droht. Ein Alptraum, den Regisseur Comte als Kind oft träumte und der ihm als Startpunkt für das
Drehbuch von Fauve diente. Selbst im ländlichen Raum aufgewachsen, verknüpft Comte das Angstbild seiner Kindheit mit Gefühlen ungebändigter Freiheit und Wildheit. Poetisch verdichtet nimmt der Alptraum im Film einen fatalen Lauf. Egal, wie stark sich die Jungen zuvor gebärdet und gefühlt haben, den Kräften der Natur stehen sie machtlos gegenüber. Eltern, die sich in der Not um sie kümmern könnten, sind in
Fauve gänzlich abwesend.
Parabel über den Verlust der Unschuld
Rund um den Wendepunkt der Handlung erfolgt eine stilistische Veränderung:
Inszeniert Comte die Anfangsszenen noch in verwackelter
Handkamera-Ästhetik, werden die Aufnahmen im unwirklich scheinenden Tagebau statischer und lyrischer. Wie erstarrt filmt die Kamera die unabwendbare Katastrophe: Benjamin steckt im Schlamm, zunächst in
Großaufnahme, dann aus der
Vogelperspektive, schließlich in einer Supertotalen nur noch als kleiner Punkt sichtbar, von der Landschaft gewissermaßen verschluckt. Das retardierende Moment, Tylers vergebliche Hilfesuche, findet ebenso in wechselnden fixen Einstellungen statt. Die furchtbare Gewissheit über den Verlust des Freundes verdeutlichen schließlich
Überblendungen zwischen dem Jungen und den zerfurchten Sandformationen der Grube, untermalt von einer anschwellenden, dissonanten
Filmmusik.
Dieser auffällige Inszenierungsstil verleiht dem Film parabelhafte Züge: Es geht um das Verhältnis vom Menschen zu seiner Umgebung – zu anderen Menschen, aber auch zur Natur. Als Tyler zurück im Wiesengrün des Straßenrands ist, sieht er, wie Benjamin zu Filmbeginn, einen Fuchs. Listiges Fabeltier, Träger einer moralischen Botschaft, Wiedergeburt des verlorenen Freundes? Das Sinnbild bleibt offen. Tyler weint. Die Zeit der Unschuld ist für ihn vorbei.
Das Dossier "Kurzfilme für Jugendliche" finden Sie auch als PDF-Druckversion in der rechten Spalte. Zur folgenden Aufgabe für den Schulunterricht gibt es im PDF einen didaktisch-methodischen Kommentar sowie eine französische Fassung für den Fremdsprachenunterricht.
Arbeitsblatt zu Fauve
Fächer: Französisch, Deutsch, Kunst, Philosophie, Ethik ab Klasse 9
Hinweise für den Französischunterricht: Die französische Übersetzung der Aufgabe stellt das PDF der Ausgabe zur Verfügung.
Der kanadische Film
Fauve von Jérémy Comte ist ein
Kurzfilm mit einer Laufzeit von 16 Minuten. Wie in langen Spielfilmen wird die fiktionale Handlung von Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt (im Unterschied zum Dokumentar- oder
Animationsfilm).
Vor der Filmsichtung:
a) Was versteht man unter einem Kurzfilm?
• Tauscht euch über eure eigenen Seherfahrungen mit Kurzfilmen aus:
o Wo und in welchem Zusammenhang habt ihr bereits Kurzfilme gesehen?
o Was zeichnet die Gattung im Unterschied zum Langfilm eurer Meinung nach aus (Inhalt, filmästhetische Mittel, Vorführsituation)?
• Vergleicht eure Überlegungen mit dem Glossareintrag zur Gattung
Kurzfilm auf kinofenster.de. Fasst zusammen, wie die Gattung Kurzfilm hier definiert wird. Erörtert, aus welchen Gründen Kurzfilme für Filmemacher/-innen sowie für Zuschauende eine interessante Gattung darstellen.
Während der Filmsichtung:
b) Teilt euch in vier Gruppen auf. Jede Gruppe übernimmt eine Frage und beantwortet sie stichpunktartig unmittelbar nach der Sichtung:
• Welche Beziehung verbindet die Protagonisten?
• Aus welchen Gründen kommt es zur Katastrophe?
• Welche Szenen haben euch besonders überrascht? Warum?
• An welche(s) Element(e) der visuellen Gestaltung könnt ihr euch erinnern?
Nach der Filmsichtung:
c) Tauscht euch im Plenum über eure Beobachtungen und Notizen zu b) aus.
d)
Fauve erzählt in kurzer Zeit ein komplexes Drama. Um Spannung effektiv auf- und wieder abzubauen, orientiert sich der Film weitestgehend an der Erzählstruktur des klassischen Dramas. Recherchiert zur Struktur des klassischen Drama und fasst eure Ergebnisse im Plenum zusammen. Folgende Quellen könnt ihr für Eure Recherche nutzen:
e) Ordnet in Partnerarbeit die Standbilder aus dem Film den entsprechenden Stufen bzw. Akten der klassischen Dramenstruktur zu und begründet eure Zuordnung im Plenum.
o Exposition
o Erregendes Moment/steigende Handlung
o Höhepunkt und Peripetie
o Retardierendes Moment/fallende Handlung
o Katastrophe/Auflösung
f) Analysiert die letzte Szene des Films anhand der Standbilder:
• Fügt sich die Szene eurer Meinung nach in die klassische Dramenstruktur ein? Warum ja/nein?
• Handelt es sich um ein offenes oder geschlossenes Ende?
• Welche Funktion hat die Szene? Welcher Gedanke bzw. welche Botschaft wird vermittelt?
g)
Optional zur Vertiefung: Seht den Film noch einmal. Vergleicht im Plenum die
Anfangsszene auf den stillgelegten Gleisen mit den Szenen rund um die Katastrophe.
• Welche filmästhetischen Mittel werden jeweils genutzt (beispielsweise
Kameraeinstellungen,
Kamerabewegungen,
Montage,
Ton und
Musik)?
• Welche Wirkung erzeugen sie?
• Wie wird Spannung unterstützt bzw. erzeugt?
Ihr könnt für eure Analyse auch die Standbilder aus d) nutzen.
h) Diskutiert in Kleingruppen jeweils eine der folgenden Fragen und präsentiert eure Ergebnisse kurz im Plenum :
• Welche Wirkung, Gedanken und Ideen hinterlässt der Film bei euch?
• Welche Themen stehen eurer Ansicht nach im Zentrum des Films?
• Erfüllen die dramatische Erzählstruktur und filmischen Gestaltungsmittel ihren Zweck?
• Mit welcher Absicht hat der Regisseur Jérémy Comte den Kurzfilm
Fauve vermutlich gedreht? Seht euch dazu folgendes
Interview an.
• Würde der Film auch in Form eines langen Spielfilms funktionieren?
h) Fasst eure Beobachtungen und Überlegungen in Form einer Filmkritik zusammen.
Autor/in: Marguerite Seidel, Autorin mit Schwerpunkt Film und Filmvermittlung, Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache, 04.09.2019
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