Hintergrund
Der (un)getrübte Blick – Macht und Ohnmacht der Fotografie
Wir sehen immer mehr Bilder. Aber wir sehen kaum noch ein Bild: das Bild vor Augen. Der Augen-Blick auf die Wirklichkeit, wie er physiologisch erzeugt und im Gehirn verarbeitet wird, ist verunsichert. Denn hauptsächlich sehen wir Medienbilder von der Welt. Wie sehr wir bereits daran gewöhnt sind, wie sehr wir schon das "natürliche" Sehen verlernen, kann jeder erfahren, der nach langen Jahren des Fußball-Konsums vor dem Fernsehgerät wieder einmal ein Stadion besucht. Ihm wird das Geschehen auf dem Rasen vor allem in den entscheidenden Situationen ziemlich undurchschaubar bleiben. Denn ihm fehlen Zeitlupen-Wiederholungen, Standbilder, Kommentare. Allein gelassen mit sich und dem realen Ereignis, ohne mediale Vermittlung, fühlt der Mensch sich fast schon desorientiert.
Die festgehaltene Wirklichkeit
Zwischen Mensch und Wirklichkeit ist der Apparat getreten, das technische Medium. Es hat nicht nur die Wahrnehmung verändert, sondern offensichtlich auch die Wirklichkeit selbst. Medien nehmen Einfluss auf das, was geschieht – vor allem die audiovisuellen Medien. Von diesen wieder jene besonders, die den Blick des Menschen ausgeweitet und das Auge zum zentralen Sinnesorgan der letzten 150 Jahre erhoben haben. Alles begann mit dem Fernrohr und mit der Camera Obscura, die Künstler dazu benutzten, um die Natur nachzuzeichnen. Alles wurde aber erst manifest, als es gelang, mit der Camera Obscura Ausschnitte der Wirklichkeit festzuhalten und zu reproduzieren. Diese Fixierung und Wiederholung von Wirklichkeitsauschnitten war der Erfolg der Fotografie. 1837 konnte Louis Daguerre erstmals ein Lichtbild mit Kochsalzlösung auf Dauer festhalten. Das gilt als Geburtsstunde der Fotografie.
Die Ferne rückt näher
Ob Fotografien die Welt verändert haben, darüber streitet man bis heute. Die Köpfe haben sie gewiss verändert. Zunächst machten sie mit der Fremde und der Ferne vertraut. Sie brachten visuelle Informationen darüber an jeden Ort der Welt, wie es an jedem anderen Ort der Welt aussah. Später erforschten sie den Mikrokosmos und den Makrokosmos, zeigten Details der Wirklichkeit, die dem "natürlichen" Blick des menschlichen Auges nicht zugänglich waren. Man muss aber die Bedingungen der Bilderproduktion stets mit bedenken, um nicht in Euphorie über die Macht des Bildmediums zu verfallen.
Foto: James Nachtwey; aus dem Film "War Photographer"
Auswahl und Inszenierung
Erstens zeigen Fotos nie die ganze Wirklichkeit, sondern immer nur Ausschnitte, die auf der Auswahl und damit der Wirklichkeitsbeeinflussung durch den Fotografen beruhen. Zweitens lassen sich die Bildausschnitte inszenieren, müssen die Wirklichkeit also keineswegs unverstellt und ungestellt wiedergeben. Drittens sind Fotografien als Massenmedium (nicht als privates Medium) sehr schnell zur Ware geworden. Das heißt, sie gehören jemandem (z. B. einer Agentur), die darüber verfügen kann, ob sie veröffentlicht werden oder nicht. Fotografien können also die Wirklichkeit manipulieren und dadurch die Köpfe. Fotografien können Informationen in die Welt setzen oder vermeiden.
Bilder vom Bürgerkrieg
Besonders heikel war die Macht des neuen Mediums sehr früh in Krisen- und Kriegssituationen. Hier wurde es sofort als Propagandainstrument benutzt. Hier konnte es Engagement motivieren, Geheimnisse verraten, Schrecken verbreiten. Der erste Krieg, von dem es Fotos gibt, war der Krimkrieg (1853-1856). Der erste fotografierte Krieg war der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865). Selbstverständlich gibt es davon keine Momentaufnahmen. Dafür war die Technik noch nicht entwickelt. Doch das Foto des von Peitschenhieben zerfleischten Rückens eines schwarzen Sklaven konnte bereits das Vorgehen der Nordstaaten legitimieren. Aufnahmen der Leichen auf dem Schlachtfeld vermochten die Stimmung in der Heimat der Soldaten zu trüben.
Ikonen der Fotografie
Aus späteren Kriegen gibt es Fotos, die geradezu zu Ikonen geworden sind und große Nachwirkung entfaltet haben. Dazu gehört Joe Rosenthals Aufnahme vom Aufrichten der amerikanischen Fahne auf der Insel Iwo Jima im Pazifik-Kampf des Zweiten Weltkriegs. Dieses Foto ist in Spielfilmen nachgestellt worden. Es hat die Vorlage für das War Memorial auf dem Kriegerfriedhof Arlington in Washington abgegeben. Es wird immer wieder zitiert, wenn es gilt, amerikanischen Heroismus zu feiern, z. B. in der besonders aktuellen Comic-Ikonografie zur Bewältigung der Terror-Anschläge vom 11. September. Dennoch ist es ein gestelltes Foto, das durch die Auswahl des Bildausschnitts auf der Basis der Originalaufnahme einen zusätzlichen Inszenierungs-Effekt bekam. Ein weiteres Beispiel für inszenierte Kriegsfotografie mit mythologischer Wirkung ist das Bild vom Hissen der Sowjetfahne auf dem Berliner Reichstag.
Der Fall Vietnam
Eine besonders heiße Diskussion um die Wirkung von Fotos auf den Kriegsverlauf ist im Fall Vietnam entbrannt. Waren es die bekannten Aufnahmen eines nackten, von Napalmbomben verbrannten Mädchens oder der Erschießung eines Vietcong durch den Polizeipräsidenten von Saigon, die in Amerika den Protest gegen den Krieg anschwellen ließen und letztlich zur militärischen Niederlage der USA beitrugen? War Vietnam ein Krieg der Bilder, wie man sagt? Hat die amerikanische Armee-Führung deswegen im späteren Golfkrieg oder beim Einsatz in Afghanistan eine Art Bilderverbot erlassen? Es gibt Anzeichen, aber es gibt auch Fragezeichen für solche Thesen.
Foto: James Nachtwey; aus dem Film "War Photographer"
Die Wirklichkeit wird virtuell
Überhaupt gibt es zunehmend Fragezeichen über der Fotografie als Repräsentations-Medium der Wirklichkeit. In seinem berühmten Spielfilm
Blow up (1966) hat Michelangelo Antonioni mitten in der Epoche des Vietnamkriegs die Fragwürdigkeit der Wahrnehmung thematisiert, sei sie nun natürlich oder medial vermittelt. Die Digitalisierung des Bildes und die damit einher gehende Möglichkeit, die Wirklichkeit grundsätzlich als unendlich veränderbar und damit nur noch als virtuell zu begreifen, nimmt dem Medium endgültig den Charakter des Dokumentarischen. Vielleicht wird man eines Tages nicht mehr sagen können: Bilder geben Wirklichkeit wieder, sondern Bilder gestalten Wirklichkeit. Und wir werden lernen müssen, mit dem berechtigten Misstrauen in unseren Augen sinnvoll umzugehen.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006