Hintergrund
Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert
In der Geschichte der Menschheit finden sich vielfältige Hinweise auf größere und kleinere Wanderungsbewegungen innerhalb und zwischen den Kontinenten. Unter den Vorzeichen von zwei Weltkriegen und einer zunehmenden ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierung haben sich die Migrations- und Flüchtlingsprobleme im 20. Jahrhundert enorm verschärft. Auf der Agenda einer "Weltinnenpolitik" der UN nehmen die Migrations- und Flüchtlingsprobleme sogar einen Spitzenplatz ein.
Eine Sache der Definition
Insgesamt wird die Anzahl der Menschen, die im letzten Jahrhundert auf der Flucht waren, auf 250 bis 300 Millionen geschätzt. Die Überschneidung der Phänomene Migration und Flucht macht es allerdings schwierig, die Wanderungsbewegungen zu erfassen. Während die Auswanderung im 19. Jahrhundert in der Regel freiwillig war, verließen im 20. Jahrhundert die Menschen ihre Heimat meist unfreiwillig. Darüber hinaus gibt es legale und illegale Wanderungsbewegungen. Die Genfer Konvention von 1951 unterscheidet anerkannte Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen nicht abgeschoben werden dürfen (Konventionsflüchtlinge) und solche, deren Anzahl von den jeweiligen Aufnahmeländern von vornherein festgelegt werden (Kontingenzflüchtlinge). Zu letzteren gehören beispielsweise Bootsflüchtlinge aus Vietnam in den 1980er Jahren und Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo in den 1990er Jahren.
Einzelschicksale hinter großen Zahlen
Weltweit leben derzeit 85 Millionen Migranten außerhalb ihres Geburtslandes, 13 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende und etwa 20 Millionen illegale Zuwanderer. 30 Millionen Menschen gelten nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisationen als innerstaatlich Vertriebene (displaced persons). Allein in China sollen ca. 100 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit fern von ihren Heimatorten unterwegs sein, was sich als Migration im eigenen Land bezeichnen lässt.
Auslösende Faktoren
Wanderungsbewegungen werden an erster Stelle durch politische Verwerfungen innerhalb und zwischen Staaten ausgelöst, eine große Rolle spielen außerdem ethnische Konflikte und fundamentalistische Bewegungen. Wirtschaftliche Gründe werden dann besonders wichtig, wenn Länder ihre Einwanderungsbedingungen erleichtern oder die Chance besteht, dort Arbeit zu finden. Untersuchungen prognostizieren, dass Armut, Krankheiten in der Dritten Welt, Terroranschläge und fundamentalistisch begründete Ausgrenzungen zukünftig vermehrt Wanderungsbewegungen auslösen werden.
Von der Abwanderung zur Flüchtlingswelle
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts überwogen – forciert durch die fortschreitende Industrialisierung – Abwanderungen aus bäuerlichen in städtische Regionen, die Bewegungen von Siedlern und Farmern in und aus Kolonialgebieten und nationalstaatliche Fluchtbewegungen. Das 20. Jahrhundert kennzeichnen die großen Flüchtlingsströme der Weltkriege. Mit dem Ersten Weltkrieg gerieten allein in Europa etwa 10 Millionen Flüchtlinge unkontrolliert in Bewegung. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches (Türkei und Balkanstaaten), des russischen Zarentums und der Habsburger Donau-Monarchie löste eine Flüchtlingswelle vor allem aus Osteuropa, Russland und dem Balkan aus. Die ethnischen Vertreibungen bewirkten eine Bewegung nach Westen, die vom Völkerbund und den beteiligten Staaten Handlungsinitiativen verlangten. Das Engagement des Völkerbundes, insbesondere die bis 1923 gewährte Auswanderungsmöglichkeit in die USA und bilaterale Verträge mit Frankreich, das besonders viele Männer im Krieg verloren hatte, brachten die Migration zunächst zum Stillstand.
Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
Zwischen den Weltkriegen wurden Flüchtlingsbewegungen in Europa überwiegend durch den Faschismus Mussolinis in Italien (1,5 Mill.), den Nationalsozialismus in Deutschland (bis Ende 1938 etwa eine halbe Million) und die Machtergreifung Francos in Spanien (mehrere Hunderttausend Flüchtlinge) ausgelöst. Die Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und die Fremdenfeindlichkeit in den 1930er Jahren beschränkten die Bereitschaft der europäischen Staaten, Flüchtlinge als Einwanderer aufzunehmen. Vor allem die Juden in Deutschland waren nach der Machtübernahme Hitlers von diesen Restriktionen betroffen. Die europäischen Länder waren dem Zustrom der jüdischen Emigranten nicht mehr gewachsen, Palästina als britisches Mandatsgebiet stand der deutsch-jüdischen Einwanderung restriktiv gegenüber. Die USA nahmen trotz verschärfter Einwanderungsbestimmungen 1.340000 Flüchtlinge auf, ungefähr 80.000 Flüchtlinge gelangten mit Hilfe internationaler Unterstützung nach Lateinamerika. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten Kriegsflüchtlinge und Vertriebene in ihre Heimat zurück, auch das Ende der Kolonien führte zu Rückwanderungen nach Deutschland (14 Millionen bis 1988) und in die Mutterländer der Kolonialstaaten. Mehr als eine Million französische Siedler kamen beispielsweise nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954-62) nach Frankreich zurück.
Wirtschaftswunder und Wirtschaftsnot
Mit dem Wirtschaftsboom der 1950er und 60er Jahre begann eine neue Form der Zuwanderung. Die Anwerbung von Arbeitskräften war zunächst auf Zeit angelegt. Die so genannten "Gastarbeiter" kamen insbesondere in die Bundesrepublik, nach Frankreich und in die Schweiz, rekrutiert wurden sie aus Italien, später auch aus Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawien und in geringerem Maße aus außereuropäischen Ländern. Mit der Wirtschaftskrise 1973/74 und steigenden Arbeitslosenzahlen setzte eine Gegenbewegung ein. Die Anwerbung von Zuwanderern wurde eingestellt, staatliche Hilfsprogramme unterstützten die Rückkehr in die Heimat. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wandern immer mehr Menschen aus Asien, Afrika und Lateinamerika nach Europa ein, auf der Flucht vor diktatorischen Regimes, ethnischen Konflikten und wirtschaftlicher Not. Viele von ihnen leben in der Illegalität, die verschärfte Abschottung der "Festung Europa" erlaubt kaum noch eine legale Zuwanderung.
Literatur
Angenendt, Steffen: Eine Welt der Wanderungen, in: Kaiser, Karl/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Baden-Baden 2000
Blaschke, Jochen: Einwanderungspolitik in den neunziger Jahren. Alte Kleider, neue Moden, in: Jahrbuch Dritte Welt. Daten, Übersichten, Analysen, München 1998
Nuscheler, Franz: "Neue Völkerwanderungen" aus dem Süden. Bedrohung oder Halluzination, in: Jahrbuch Dritte Welt. Daten, Übersichten, Analysen, München 1998
Sassen, Saskia: Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa, Frankfurt am Main 1996
Autor/in: Hans Svoboda (punctum, Bonn), 01.07.2003