Flüchtlinge wurden einst von Lenin als Menschen beschrieben, die mit ihren Beinen wählen, weil ihnen als einziges Protestmittel das Weglaufen zur Verfügung steht. Der Brite Michael Winterbottom widmete solchen Menschen seinen zutiefst berührenden Film
In This World. Es gelingt ihm in beeindruckender Weise, den "Asylbewerbern und Wirtschaftsflüchtlingen" der Zeitungsschlagzeilen Gesichter, Namen, Schicksale, ein Leben zu geben.
Der Traum von einem besseren Leben
Die afghanischen Teenager Jamal und Enayatullah machen sich aus einem riesigen pakistanischen Flüchtlingslager in ihr "El Dorado" auf, zu einem entfernten Verwandten in die Londoner Kilburn High Road. Ihre Reise führt sie durch den Iran, die Türkei, Italien und Frankreich. Unterwegs werden sie bestohlen und ausgenützt, ausgehungert verlieren sie ihre Träume, werden mit Tragik und Tod konfrontiert. Ihnen steht niemand hilfreich mit Rat und Tat zur Seite, stattdessen sind die beiden einem verborgenen Netzwerk von Menschenschmugglern ausgeliefert, das nur für viel Geld in Aktion tritt. Dies ist der Weg, auf dem Millionen der Armen und Verlorenen Asiens für ein anderes, vermeintlich besseres Dasein Hab, Gut und Leben riskieren; auf paradoxe Weise war der westliche Hippie-Pfad der 1960er-Jahre genau umgekehrt.
Authentischer Inszenierungsstil
Stilistisch ist der Film eines der herausragendsten Beispiele der letzten Jahre für eine nahezu vollkommene Einheit von Form und Inhalt. Nicht immer finden digitale Handkameras sinnvolle Verwendung,
In This World aber bezieht seine packende Authentizität gerade aus einem "Guerilla-Stil", bei dem ständiges Improvisieren und Drehen auch unter härtesten Bedingungen Vorrang haben vor einem nach konventionellen Mustern ablaufenden Drehbuch. Nicht zuletzt wegen einer kurzen Einleitungssequenz, die wesentliche Hintergründe per Kommentar und Karte erläutert (ganz ähnlich wie der Beginn des Klassikers Casablanca), wähnt man sich anfangs in einem Dokumentarfilm.
Eine Reise wird zum Albtraum
Bald aber bleibt nichts als die Konzentration auf die Reise der beiden jungen Männer, die zumeist in grimmiges Schweigen gehüllt sind. Sie wird gelegentlich unterbrochen von Streitereien zwischen Menschen, die sich weder von der Sprache noch von ihren Absichten her verstehen können. Ihre ganze Menschlichkeit scheint auf Eis gelegt, zur Wiederaufnahme erst bestimmt, wenn das Ziel erreicht ist. Keine herzerwärmenden Freundschaften werden im Bus während des missglückten Grenzübergangs in den Iran geschlossen, keine unvergesslich-exzentrischen Weggefährten säumen den gefährlichen nächtlichen Weg über einen schneebedeckten Bergpass in die Türkei oder bei der zynischen Verfrachtung in einen versiegelten Transportcontainer, der den meisten zum Sarg wird. Am Ende eines jeden Wegesabschnitts kann ein korrupter Grenzsoldat oder ein kühler Verwaltungsbeamter stehen, der jeden vermeintlichen Fortschritt mit einem Federstrich zunichte macht.
Niemand fühlt sich verantwortlich
Über die Motive der Flüchtlinge kann man nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich sind sie das, was man in Europa so gerne und abschätzig als "Wirtschaftsflüchtlinge” bezeichnet. Jamal und Enayatullah lassen ihre zerstörte Heimat und die bittere Armut dort zurück; Zerstörung und Armut, die nicht von ihnen selbst verschuldet sind, sondern von großen geopolitischen Ereignissen herrühren wie dem sowjetischen Einmarsch 1979 in Afghanistan und der US-Bombardierung des Landes im Jahr 2001. Winterbottom stellt den Zusammenhang zwischen den Kosten von 7,9 Milliarden Dollar für den Krieg gegen die Taliban und der Tatsache her, dass fast niemand gewillt ist, für die damit ruinierten unschuldigen Leben Geld aufzubringen oder auch nur Verantwortung zu übernehmen. In Großbritannien, wo die Asyldiskussion ähnlich wie in Deutschland und anderen westlichen Industriestaaten kontrovers geführt wird, wurde der renommierte Filmemacher für seinen Mut gepriesen, im gegenwärtigen politischen Klima einen solchen Film zu machen. Angesichts der Ereignisse rund um den Irak-Krieg 2003 gewinnt sein leidenschaftliches Plädoyer für Menschlichkeit und die Verantwortung des Westens gegenüber den Opfern seiner Politik schon fast prophetische Züge.
Die eingeholte Realität
Die Akteure von
In This World sind allesamt nichtprofessionelle Darsteller, die unter ihrem eigenen Namen auftreten. Nach Ende der Dreharbeiten nutzte Jamal sein noch gültiges Visum zu einer privaten Reise nach London, wo er unverzüglich Antrag auf Asyl stellte. Nach seinem 18. Geburtstag wird er wohl als "unerwünschter Ausländer" ausgewiesen werden – wenn er bis dahin nicht längst untergetaucht ist. Am Ende von Jamals Reise im Film muss die Frage stehen: War es das alles wert? Die raue Wirklichkeit der heutigen Welt, die permanente nackte Verzweiflung von Millionen von Menschen, die gewillt sind, für eine neue Existenz in einem fremden Land alles aufs Spiel zu setzen, lässt wohl keinen Zweifel über die Antwort der Betroffenen aufkommen.
In This World macht diese Realität deutlich und überdies zu einer sinnlich fassbaren Erfahrung. Niemand, der diesen Film aufmerksam betrachtet, wird ungerührt bleiben können und dabei ein beträchtliches Stück Einsicht gewinnen über alltägliches menschliches Leid zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Autor/in: Thomas Gerstenmeyer, 01.07.2003