Hintergrund
Den Western neu erzählen
Kelly Reichhardts First Cow und Auf dem Weg nach Oregon
Western sind Geschichten, die vom "Wilden Westen" erzählen. In diesem Begriff schwingt eine Behauptung mit: Der Westen des nordamerikanischen Kontinents war "wild", bis die Weißen kamen und Kultur mitbrachten. Weiße Männer waren die Helden in den Western, vorwiegend weiße Menschen saßen in den US-Kinos, als der Western als
Kinogenre seine größte Zeit hatte, in den 1940er- und 1950er-Jahren.
Inzwischen hat sich das Bild vom "Wilden Westen" deutlich gewandelt, die Geschichtsforschung, aber auch die Selbstermächtigungsbestrebungen der indigenen Bevölkerung haben dazu ebenso beigetragen wie das gewachsene Bewusstsein für kulturelle Vielfalt. Ein nicht geringer Teil dieser Aufklärung und Reflexion wurde wiederum durch Westernfilme geleistet.
First Cow (2019) von Kelly Reichardt ist dafür ein exzellentes Beispiel, wie auch schon
Auf dem Weg nach Oregon (
Meek's Cutoff, 2010), der erste Western der Regisseurin. Beide Werke zeigen anschaulich, wie das filmische Erzählen sich ständig zwischen etablierten Formeln und Stoffen und konkreten Revisionen und Reflexionen bewegt.
Lebensfeindliche Landschaft
Ein erster wichtiger Aspekt in jedem Western ist die
Landschaft. Weite gehört klassischerweise zu ihren Charakteristiken: Die Prärie der Great Plains, die großen Ebenen östlich der Rocky Mountains, ist dafür sinnbildlich. Pionier/-innen finden in diesen Gegenden die Möglichkeit vor, etwas aufzubauen – eine Farm, später eine Stadt. Sie stoßen dabei auf den Widerstand der indigenen Bevölkerung, den lange Zeit auf rassistische Weise dargestellten Native Americans, die ihre Rechte auf das Land nicht durchsetzen können. Die Western von Kelly Reichardt spielen in Oregon im äußersten Nordwesten, in einer Welt, die in beiden Fällen als tendenziell lebensfeindlich gezeigt wird: In
Auf dem Weg nach Oregon verdursten die Pionierfamilien beinahe, und
First Cow beginnt mit ausgehungerten Pelzjägern, die in der Wildnis der Wälder kaum etwas zu essen finden. Die Mythologie vom unberührten Paradies, die in fast allen Western mitschwingt, wird hier schon einmal sehr konkret durchkreuzt.
First Cow, Filmszene (© Peripher Filmverleih)
Auch die Heldenkonzeption weicht von den klassischen Vorbildern ab. Üblicherweise bewegen sich in Western weiße Männer an der Kulturgrenze. Sie tragen Konflikte zwischen Gewalt und Gesetz aus, in denen selbst die Helden letztlich zur Waffe greifen, um das Recht zu etablieren. Cookie Figowitz und King-Lu, die beiden Hauptfiguren in
First Cow, sind hingegen keine typischen Helden. Sie wären in den Westernklassikern wie zum Beispiel John Fords
Ringo (
Stagecoach, 1939) oder
Faustrecht der Prärie (
My Darling Clementine, 1946) eher als Nebenfiguren denkbar – ein Koch und ein Herumtreiber, beide mit ausdrücklicher Migrationsgeschichte, der eine aus Osteuropa, der andere aus China. Ihre ungewöhnliche Beziehung macht einen Aspekt deutlich, der in den traditionellen Western immer verschwiegen wurde, dabei aber unübersehbar war: Die Pioniere waren häufig in Männergesellschaften unterwegs, und doch durften in diesen homosozialen Milieus keine Andeutungen von Homosexualität auftauchen. Cookie und King-Lu aber sind ein Paar in der ganzen Vieldeutigkeit dieses Begriffs. Sie bilden eine Notgemeinschaft, die auf Zuneigung beruht.
Gegenentwürfe zum Männergenre
Kelly Reichardt unterläuft den Western als Männergenre auf vielen Ebenen. Bei
Auf dem Weg nach Oregon ging ihr langjähriger
Drehbuchpartner Jon Raymond ausdrücklich von Tagebuchaufzeichnungen von Frauen aus, die den Oregon Trail Mitte des 19. Jahrhunderts, der größten Siedlerbewegung zur Erschließung des Nordwestens, mitgemacht hatten. Auch die Besetzung der Rollen spiegelt eine veränderte Perspektive wider: Größter Star des Films ist Michelle Williams, die als Emily Tetherow auch im Zentrum der Erzählung steht. Das Publikum erlebt den Überlebenskampf sehr stark aus ihrer Sicht, und sie kommuniziert schließlich auch unkonventionell mit einem Native American, der sich als zwiespältiger Retter erweist. Ebenso außergewöhnlich für das Genre wie diese feministische Umkehrung der Kompetenzen ist die Differenzierung der Geschlechterrollen, die in
First Cow erkennbar ist: Cookie und King-Lu sind bis zu einem gewissen Grad Vorwegnahmen von Männerbildern, die erst im 20. Jahrhundert allmählich zum Vorschein kamen. Das betrifft etwa Aspekte wie die Häuslichkeit, die traditionell mit Weiblichkeit assoziiert wurden. Lange Zeit hatten Western für Frauen nur wenig Verwendung: als Ehefrau, als Lehrerin (zum Beispiel in
Der Mann aus dem Westen/Man of the West, 1958, von Anthony Mann) oder aber als Alleinstehende, die "wie ein Mann" die Stellung hält (herausragendes Beispiel ist Joan Crawford in
Johnny Guitar - Wenn Frauen hassen/Johnny Guitar, 1954, von Nicholas Ray).
Bei Kelly Reichardt werden die Rollenklischees nicht einfach umgekehrt, sie werden vielmehr aufgehoben – wobei Frauenfiguren in
First Cow nur wenig Raum einnehmen. Das zeigt sich im Film auch allgemeiner in dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Im klassischen Western ist die Natur üblicherweise beeindruckend und übermächtig. Umso heroischer und notwendiger erscheint in den Filmen ihre Unterwerfung durch den Menschen oder genauer: den Mann. Das geläufigste Bild dafür ist die Eisenbahn, die Rinderherden beispielsweise in Nebraska mit den Schlachthöfen in Chicago verbindet. Cookie und King-Lu aber leben weitgehend gewaltlos von der Natur. Sie stehlen zwar die Milch der "ersten Kuh" in der Wildnis, schöpfen damit aber letztlich ab, wovon der Besitzer nur exklusiven Gebrauch machen will. Indem sie ihre Produkte der Allgemeinheit zum Kauf anbieten, vergesellschaften sie die Milch auf eine Art. Cookie und King-Lu sind so etwas wie frühe "Ökos", wenngleich aus der Not heraus, denn die Natur ist für sie auch Rückzugsgebiet vor einer Zivilisation, die sie als männlich dominant und menschenfeindlich in Bezug auf ihre Lebensweise erleben.
First Cow, Filmszene (© Peripher Filmverleih)
Lange vernachlässigte Perspektiven
Letztendlich geht es in allen Western um Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft, die, wenn sie verwirklicht ist, ihre von Gewalt erfüllte Vorgeschichte hinter sich lässt. Kelly Reichardt zeigt sich in ihren Filmen immer sehr interessiert an der politischen Geschichte der USA. Sie hat von prekären Verhältnissen erzählt (
Wendy & Lucy/Wendy and Lucy, 2008), von potenziell terroristischen Gegenkulturen (
Night Moves, 2013), von der unklaren Heilkraft der Natur (
Old Joy, 2006). Ihre Western übertragen dieses Interesse an Politik in Erzählungen vom Anfang des gegenwärtigen amerikanischen Systems. Sie schreiben die Traditionen des Wilden Westens aus Perspektiven, die lange vernachlässigt wurden: aus denen von Frauen, Minderheiten oder der Natur selbst in ihrer Widerständigkeit.
Autor/in: Bert Rebhandl, freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin, 18.11.2021
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.