Justice!
Glosse
Die Schlüsselszene des amerikanischen Gerechtigkeitsinns ist der Zweikampf. Der Gute und der Böse stehen sich auf der Main Street gegenüber. Es schlägt 12 Uhr mittags. Der Gute zieht schneller. Der Böse fällt in den Staub. Vorhang. Applaus. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Das Kino macht mit der pädagogischen Wiederholung dieser Szene Moneten.
Justice heißt Gerechtigkeit auf Englisch. Ein Wort wie ein Nieser, schnell hingeschnäuzt wie die Kugel aus dem Colt. Aber da solche Geschwindigkeit ein wenig unübersichtlich ist, gibt es noch die Zeitlupenversion für Genießer. Sie verlegt die Main Street in den Gerichtssaal. Die Duellanten sind zum Showdown übersichtlich positioniert. Aus der Richterperspektive links: der Anklagevertreter mit seinem Tross (meist in der Rolle des Bösen). Aus der Richterperspektive rechts: neben dem schier verzweifelten Angeklagten der strahlende Anwalt des Rechts (seit Perry Mason fast ausschließlich in der Rolle des Guten). Im Gegensatz zur Dorfstraße, auf der man nie zu sehen bekommt, wie die Waffen geladen werden (da mäht ein Sechsschüsser auch zwanzig Gegner hin), spielt in der Zeitlupenversion die Munitionierung die entscheidende Rolle. Sie nennt sich hier Ermittlung und stopft die Waffe des Guten Indiz um Indiz. Die Waffe ist das Wort. Der Schusswechsel heißt entweder Kreuzverhör oder Plädoyer. Danach entsteht die Stille, bei der niemand weiß, wer gleich in den Staub sinken wird. Es gibt ihn aber doch, den Knall, ausgelöst vom Hammer des Richters. Urteilsspruch. Der Staatsanwalt ist getroffen. Enthusiasmus unter den Zuschauern auf der Leinwand und davor. "Ruhe! Oder ich lasse den Saal räumen!"
Wir sind im "Courtroom-Drama", der beliebten Kinogattung des Gerichtsfilms, bei dem Justitia immer dicke Tränen der Rührung unter der Blindenbinde hervorquellen. Ein Drama verlangt Dramaturgie und damit Verlässlichkeit. Auf die kann der Kinobesucher sich verlassen. Und von der wird er verlassen, sobald ihn vor dem Kino einer übers Ohr haut und er sein Recht will. Denn irgendwie geht es dann anders zu als auf der Leinwand. Und Justitia lächelt und spielt verschmitzt mit ihrer Waage.
Autor/in: Karl Gula, 08.12.2006