Raus aus dem Döner-Ghetto
Shell-Jugendstudie (2)
Rund 1,7 Millionen Jugendliche unter 18 Jahren und ohne deutschen Pass leben in Deutschland. Die Statistik differenziert nicht nach Aussiedlern und Eingebürgerten, nicht nach Doppelstaatsbürgerschaft oder Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen. Diese Jugendlichen wachsen gemeinsam mit den Deutschen auf, besuchen die gleichen Schulklassen, gehen gemeinsam zur Lehre. Aber ihre Wohnungen liegen oft nicht im gleichen Viertel, sie gehen in verschiedene Diskos, haben unterschiedliche Treffpunkte, denken über Familie, Religion, Tradition anders. Die jungen Deutschen und die "ausländischen Jugendlichen" – was haben sie gemeinsam, was trennt sie?
Zum ersten Mal hat eine Shell Jugendstudie ausländische Jugendliche gemeinsam mit ihren deutschen Altersgenossen befragt. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Das Attribut "multikulturelle Gesellschaft" trifft auf Deutschland nur sehr eingeschränkt zu. Deutsche und ausländische Jugendliche haben in ihrer Freizeit wenig miteinander zu tun – und sie vermissen das auch kaum. In den neuen Bundesländern gibt es kaum Ausländer, in den alten leben ausländische Familien vor allem in den Städten. Hochzeiten zwischen den Kulturen sind eine Ausnahme, türkische Mädchen heiraten nach wie vor Türken (wenn auch lieber die in Deutschland geborenen). Viele türkische Jungen pflegen eine Macho-Kultur, die ganz in der Tradition ihrer Väter steht. Familien ausländischer Herkunft halten stärker zusammen, die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, männlichen Nachkommen und ihren Schwestern ist klar definiert.
Wer aus dieser knappen Zustandsbeschreibung den Schluss zieht, die Integration sei gescheitert, denkt zu kurz. "Das ist der Fehler im Ansatz der meisten Ausländer-Studien", kritisiert Arthur Fischer, der Leiter des Psydata-Instituts in Frankfurt/Main, das die Studie erarbeitet hat. "Diese Studien gehen davon aus, dass den ausländischen Jugendlichen etwas fehle, dass sie zwischen den Kulturen zerrieben, zuhause, in der Öffentlichkeit, im Beruf unter Druck gesetzt werden."
Die Shell Jugendstudie 2000 geht einen anderen Weg: Sie lässt sich radikal auf die Sichtweisen der Jugendlichen ein. Und dabei kommt heraus, dass die Jugendlichen ausländischer Herkunft längst gelernt haben, mit Gegensätzen zu leben und von beiden Seiten zu profitieren. Sie sind es leid, sich von deutschen Sozialpädagogen bemitleiden zu lassen, wollen aus dem "Döner-Ghetto" raus, werden Bundestagsabgeordnete, führen die besten Trend-Lokale, arbeiten in deutsch-türkischen Reisebüros oder Banken, geben Zeitschriften heraus, studieren Turkologie und drehen Filme. Zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Lebenswelten – und sie sind stolz darauf.
Zwar geht es nicht allen so gut. Die sozialen Gegensätze sind schärfer als unter den Deutschen: Die Arbeitslosenquote unter den Ausländern liegt mit 20 Prozent doppelt so hoch wie bei den Deutschen, drei Viertel der arbeitslosen Ausländer hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, die ausländischen Jugendlichen haben immer noch schlechtere Abschlüsse und damit geringere Startchancen. Aber der Trend zu höheren Schulabschlüssen ist vorhanden.
Warum ist in den neuen Bundesländern eine feindliche Stimmung gegenüber Ausländern so verbreitet? Die Shell-Studie hat es vermieden, "Ausländerfeindlichkeit" zum Thema zu machen. Arthur Fischer: "Wer davon spricht, sollte definieren, was er darunter versteht." Auch wenn im Schnitt 62 Prozent der deutschen Jugendlichen meinen, der Anteil von Ausländern in Deutschland sei zu hoch, sei das kein Beleg für Ausländerfeindschaft. Die Zahl gibt "nicht unbedingt eigene konkrete Erfahrungen, sondern eher so etwas wie eine allgemeine Stimmung oder allgemeine Befürchtungen wieder." Xenophobie sei kein typisches Jugendproblem, sondern eine "Erscheinung, die ebenso bei Erwachsenen zu konstatieren ist".
Nicht die "Attraktivität rechtsextremer Milieus oder autoritärer Verhaltensmuster" sei für fremdenfeindliche Motive verantwortlich zu machen, sondern "die Angst vor eigener Arbeits- und Chancenlosigkeit, die sich in der These von der Konkurrenz zu Asylanten und Ausländern niederschlägt". Eine geeignete politische Gegenstrategie ergebe sich allein aus einem arbeits- und ausbildungsplatzbezogenen Programm.
Autor/in: Volker Thomas, 08.12.2006