Hintergrund
Das Wir und die Anderen
Erklärungsansätze zum Rechtsradikalismus in Deutschland
1979, drei Jahre nach seiner Ausbürgerung aus der DDR, schrieb Wolfgang Biermann ein Lied, das mit den Zeilen endet: "Der tägliche kleine Faschismus sieht so urgemütlich aus". Seit einiger Zeit scheint dieses urgemütliche Aussehen der Fratze von kahl geschorenen Skinheads gewichen zu sein, die sich gar nicht mehr die Mühe geben, irgendeinem ideologischen Arier-Ideal nachzueifern. Sie verkleiden statt dessen Bierbäuche in T-Shirts und Bomberjacken und attackieren Menschen, die ihnen aus irgendwelchen Gründen nicht passen. Man muss sich fragen, was in diesen Kahlköpfen vorgeht.
Stammtischmentalitäten
Biermann beschreibt in seinem Lied bereits eine Ursache dieser Entwicklung: Allzu viele stecken an Stamm- und anderen Tischen die Köpfe zusammen und machen diskriminierende Witze über "die Anderen". Das können Rechtsradikale genauso als Aufforderung zum brutalen Austoben missverstehen wie das immer neue Verstummen der Empörung über ihre Taten im letzten Jahrzehnt. Schließlich wurde der erste Angolaner kurz nach der deutschen Einheit in Eberswalde umgebracht. Schließlich gehen Asylbewerberheime seit Beginn der Neunziger in Flammen auf.
Zukurzgekommene?
Es hat viele Versuche gegeben, das Phänomen faschistischer Denkhaltungen zu erklären. Den Überlegungen des Historikers Hans-Ulrich Wehler zufolge wäre Faschismus beispielsweise der Traum des Zukurzgekommenen von Übergröße. Gerade in Zeiten politischer Umbrüche und wirtschaftlicher Modernisierungsschübe, die viele Bürger überfordern und Zukunftsängste auslösen, macht sich dieser Traum vehement bemerkbar. Das war in den 20er und 30er Jahren nicht anders, als der Faschismus in Europa geboren wurde. Heute rauben die rasanten Entwicklungen der Elektronik-Technologie und ihre Konsequenzen in Wirtschaft und Gesellschaft vielen Bürgern ihren sozialen Halt.
Machtfantasien und Gewalt
In solchen Zeiten greifen die Verunsicherten zu einfachsten Erklärungsmodellen für den Weltzustand und folgen jenen, die ihnen die Erfüllung der Träume von großer Macht versprechen. Mitten in einer unüberschaubaren Informations-Explosion ist Gewalt die einfachste Form der Kommunikation. Außerdem verleiht sie dem, der sie erfolgreich einsetzt, ein Gefühl von Macht. Daher wird sie bei den für faschistisches Gedankengut Anfälligen als Ausdruck ihrer Selbst-Repräsentation angewendet: Wir sind die Starken – ihr müsst Angst haben. So einfach funktioniert das faschistische Lebensgefühl, das sich aus der schlichten Polarität: "Wir = gut – die Anderen = schlecht und mit Gewalt zu vernichten" begreifen lässt.
Autoritäre Persönlichkeiten
So ein Lebensgefühl ist zunächst individualpsychologisch und sozial bedingt und noch nicht politisch. Es kann allerdings als politisches Potenzial geformt und ausgenützt werden. Individualpsychologisch gesehen, tendieren viele Menschen, die ohne Geborgenheitsgefühle aufwachsen, zur "autoritären Persönlichkeit" (Adorno). Sie gewinnen ihr Selbstwertgefühl aus der Unterwerfung unter ein anonymes "man" (= wir) und misstrauen allem Andersartigen, Unbekannten und Eigenwilligen, d. h. allem, was "man" zum Außenseiter erklärt. Die Gegenwart mit ihrer Auflösung von Werte- und Wärmegemeinschaften wie Familien, ist geradezu prädestiniert dazu, solche "autoritären Persönlichkeiten" hervorzubringen.
Verlust der Wärmegemeinschaft
Hier mag ein Erklärungsansatz für das verstärkte Auftreten des Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern liegen. Bürger der ehemaligen DDR haben mit diesem Staat noch eine zweite "Wärmegemeinschaft" verloren. Die Freiheit, die sie wollten und durchsetzten, bietet plötzlich eine viel größere Anzahl von Entscheidungsmöglichkeiten. Zugleich verlangt sie aber auch nach diesen Entscheidungen in einer komplexen Welt, während der Sozialismus als autoritäre Regierungsform seinerseits simple Erklärungsmodelle angeboten hatte. In der neuen Freiheit haben manche Menschen die Orientierung ganz einfach verloren und versuchen nun, sich in neuen, geistigen Mauern einzuigeln – zum Beispiel nach dem Motto: Deutschland den Deutschen, die Türken in die Türkei! Das ist uraltes Stammesdenken. Aber genau darauf läuft rechtsradikale Mentalität hinaus.
Rechtsradikalismus als Tabubruch?
Mit dem Scheitern des Sozialismus hat linke Radikalität außerdem zunächst ihre Attraktivität als Orientierungsraster verloren. Auf rechtem Gedankengut dagegen lastet das Tabu der Geschichte. Es ist eines der letzten Tabus, die in der Gesellschaft übrig geblieben sind. Das mag auch eine Ursache für die Attraktivität des Rechtsradikalismus bei Jugendlichen sein. Womit sollen sie denn "die Alten" sonst noch provozieren, wenn nicht durch den Zugriff auf die Zeichen des Faschismus: das Hakenkreuz, den Hitlergruß, die Reichskriegsflagge, deren bloßes Vorzeigen bereits straffällig ist? Rechtsradikalismus ist auch deswegen eine "Jugendmode", weil Jugend sich heute beinahe ausschließlich über Modesignale definiert und weil die intellektuelle Entscheidung für die Zugehörigkeit zu einer modischen Gruppe nirgends gefordert wird. Manche sind aus keinem anderen Grund rechts, aus dem andere Techno-Freaks sind.
Verlust von Moral
Auch der Verlust ethisch-religiöser Werte befördert die Brutalität rechter Schläger. Denn die religiöse Begründung für moralisches Verhalten hat sich weitgehend verflüchtigt. Eine soziale Begründung aber wird in der Phase des Neoliberalismus mit seinen Appellen an das Ego und nichts als das Ego, weitgehend außer Kraft gesetzt. Jugendliche wachsen mit der Mentalität des "ich will" und "ich kriege" auf. Wenn die Verhältnisse diese Erwartungshaltung dann enttäuschen, bremst keine Moral die daraus entstehende Aggression. Mit den uralten Stammestechniken wird "der Andere" zum Ding entwürdigt und zum Hassobjekt erklärt, an dem man sein vielfach beschädigtes Selbstwertgefühl durch Vernichtung aufrichtet – ohne Furcht, sich irgendwo verantworten zu müssen. Tatsächlich, solche Menschen fühlen sich gut, wenn unter ihren Fäusten Schädelknochen knacken. Keine Spur mehr von Gemütlichkeit beim täglichen, großen Faschismus in Deutschland. Es ist höchste Zeit, dieser Entwicklung entgegenzutreten.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006