Hintergrund
Die "Säuberung vom Nationalsozialismus"
Zu den Versuchen, die Auswirkungen der NS-Diktatur nach dem Kriege aufzuarbeiten, gehört unbestreitbar die strafrechtliche Verfolgung und Ahndung der unter ihr begangenen Gewaltverbrechen an politischen Gegnern, Juden, Sinti und Roma sowie Geisteskranken. Diese nicht in direktem Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen stehenden Verbrechen wurden bereits unmittelbar nach der Machtübernahme in so genannten "Frühen Konzentrationslagern" begangen, in denen vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten bis 1934 gefoltert wurden und zu Tode kamen.
Nazi-Verbrechen vor dem Krieg
Ohne jede gerichtliche Begründung wurden in den großen Konzentrationslagern mit ihren zahlreichen Nebenstellen und Außenkommandos über 600.000 Menschen in Haft genommen oder zur Zwangsarbeit festgehalten. Die Häftlinge waren der Willkür der Lageraufseher bzw. den Anordnungen vorgesetzter SS-Dienststellen ausgeliefert, Zehntausende wurden durch Gas vergiftet oder auf andere Weise ermordet. Zum Katalog der nationalsozialistischen Verbrechen gehört die als Euthanasie bezeichnete Tötung von etwa 100.000 Geisteskranken und Personen mit anderen Gebrechen durch Giftinjektionen, Nahrungsentzug und Giftgas.
Nazi-Verbrechen während des Krieges
Im Umfeld des Kriegsgeschehens ermordeten Angehörige der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) zu Beginn des Polenfeldzuges polnische Intellektuelle und "deutschfeindliche" Personen (ca. 80.000 bis 100.000). Hinter der Russlandfront operierende Kommandoeinheiten ermordeten Hunderttausende von Juden und Reichsfeinden, sofern sie nicht vorher noch als Arbeitskräfte benötigt wurden. Opfer der Sipo- und SD-Kommandos wurden zudem zahlreiche sowjetische Kriegsgefangene und politische Kommissare. Mit der 1941 eingeleiteten "Endlösung der Judenfrage" kam es zum Völkermord in den Gaskammern der polnischen Lager, insbesondere Majdanek und Auschwitz. Mehrere Millionen Menschen kamen allein durch Motorgase und Blausäure (Cyclon B) zu Tode, andere wurden erschossen, starben an Unterernährung und Erschöpfung oder bei den Todesmärschen. Zu nennen sind schließlich die 16.000 Todesurteile der deutschen Sondergerichte und des Volksgerichtshofs.
Entnazifizierung
Unmittelbar nach der deutschen Kapitulation begann die bereits drei Monate vor Kriegsende von den Alliierten beschlossene "Entnazifizierung". Ziel war es, alle NSDAP-Mitglieder aus öffentlichen Ämtern sowie Führungspositionen in der Wirtschaft zu entfernen und die aktiven NS-Anhänger zu bestrafen. Die Funktionsträger aller relevanten Ämter und Stellungen wurden im Oktober 1946 auf Anordnung des alliierten Kontrollrats fünf Gruppen zugeteilt: Hauptschuldige (Gruppe I), Belastete, d. h. Aktivisten, Militaristen und Nutznießer (Gruppe II), Minderbelastete (Gruppe III), Mitläufer (Gruppe IV) und Entlastete (Gruppe V). Die Gruppen I bis IV konnten je nach Einstufung mit Strafen und Sühnemaßnahmen wie z. B. Arbeitslager, Berufsverbot, Einziehung von Vermögen, Streichung von Versorgungsansprüchen und Einschränkung des Wahlrechts belegt werden.
Nürnberger Nachkriegsprozesse
Angesichts der Verstrickung der Nachkriegsjustiz in das nationalsozialistische System beschränkten die Besatzungsmächte die deutsche Gerichtsbarkeit zunächst nur auf Verbrechen von Deutschen gegen Deutsche. Die Justiz der Siegermächte führte 1945-46 auf der Grundlage eines Völkerrechts die Verfahren gegen 24 Führungsfunktionäre des NS-Regimes. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg verhängte gegen zwölf Angeklagte Todesurteile, u. a. gegen Hitlers Sekretär und Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann, den Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring, den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Ernst Kaltenbrunner, den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel und den Begründer des NS-Blattes "Der Stürmer" und Gauleiter von Franken, Julius Streicher. Der Stellvertreter des Führers Rudolf Heß und zwei weitere Angeklagte erhielten lebenslange, vier weitere Beschuldigte befristete Haftstrafen. Drei Angeklagte wurden freigesprochen. Göring entging der Hinrichtung durch Selbstmord, Bormann tauchte unter und blieb verschollen. In weiteren Verfahren wurden in Nürnberg 177 Angehörige verschiedener Berufgruppen (Ärzte, Juristen, Offiziere, Beamte, Wirtschaftsmanager etc.) angeklagt. 24 Angeklagte wurden zum Tode, 20 zu lebenslänglicher und 98 zu zeitlich begrenzten Haftstrafen verurteilt. 35 Beschuldigte wurden freigesprochen.
Vorwurf der Ungleichbehandlung
Insgesamt erwies es sich als schwierig, die Entnazifizierung durchzuführen. Betroffene wurden ungleich behandelt, Tatbestände verschleiert und Beschuldigte begünstigt. Auch unter den Gegnern des Nationalsozialismus geriet die "Säuberung vom Nationalsozialismus" in Misskredit. Zu Beginn der 50er Jahre wurden die laufenden Verfahren eingestellt.
Kirchliche Proteste
Jenseits vielfältiger Kontroversen lehnten auch führende Persönlichkeiten der evangelischen und katholischen Kirchenleitung die Entnazifizierung ab. Bei Papst Pius XII protestierten vor allem die Bischöfe und Kardinäle von Köln (Frings), Berlin (von Preysing) und Münster (Galen) gegen die Maßnahmen der Alliierten. Die Geistlichen beriefen sich dabei auf Inkompetenzen und Fehlentscheidungen der Siegermächte. Statt die nationalsozialistischen Verbrechen konsequent zu verfolgen, wurden von Seiten der Kirchen Eingaben gegen Verurteilte gemacht und der Blick von den Opfern des Nationalsozialismus auf die Probleme der Täter gelenkt. In diese Zusammenhänge ist auch die Fluchthilfe für prominente Nazi-Flüchtlinge nach Südamerika, insbesondere Argentinien, zu sehen. Mit Hilfe katholischer Geistlicher in Rom erhielten die Beschuldigten falsche Papiere und Reisetickets. Auf diese Weise gelangte nicht zuletzt Adolf Eichmann, der Organisator der "Endlösung", nach Argentinien.
Autor/in: Hans Svoboda (punctum, Bonn), 21.09.2006