Hintergrund
Der ausgetauschte Alltag
"Ich habe manchmal Heimweh, ich weiß nur nicht wonach" (Mascha Kaleko). Ein unersetzlicher Verlust. Kein tragischer Verlust. Alles andere als ein Verlust. Eine dieser Aussagen kann wahrscheinlich jeder Bürger der ehemaligen DDR unterschreiben, denkt er an die Auflösung dieses Landes. Es geht nicht um den Trabant, die Cama-Margarine, die Packung Juwel, die "Aktuelle Kamera”, nicht um Jesuslatschen oder um Sprelacart. Es geht hier auch nicht um die Frage, wie viele Vorzüge oder Nachteile dieses Verschwinden und Ersetzen gebracht haben. Es geht darum, dass die Gesamtheit der Alltagsgegenstände ausgetauscht wurde. Und vor allem geht es um die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich dieser Austausch vollzog.
Agieren vor einer "Blue Screen”
Stellen Sie sich vor, aus Ihren Lebensräumen wird alles Gewohnte und Vertraute in kürzester Zeit durch Neues ersetzt. Sie stehen auf einer neuen Bühne zwischen fremden Requisiten und sollen dort "weiterspielen” wie bisher. Nein, nicht wie bisher. Aber wie dann? Nach und nach verändern sich auf dieser neuen Bühne auch Ihre Wege, Bewegungen, Handlungen. Dann Ihre Erwartungen, Wünsche, Verabredungen, Ihr Auftreten. Korrekturen bis hinein in die Verständniswelt werden Ihnen abverlangt. Die ursprünglichen Codes in der Begegnungs- und Kommunikationskultur sind außer Kraft gesetzt und die neuen Codes sind nicht nur angesagt, sondern überlebenswichtig. Ihr bisheriges Gefühl, sich auf dem bekannten öffentlichen wie privaten Terrain Ihres Lebens sicher bewegen zu können, sowohl im Ablehnen als auch im Annehmen, ist unwiederbringlich verloren gegangen. Ein ganzes Volk stand als Lehrling da.
Ein überschaubares Leben
Das Leben in der DDR konnte berechnet und geplant werden. Der garantierte Kindergartenplatz, der Ausbildungs- und Arbeitsplatz, die bezahlbare Miete (ca. 1/5 des Einkommens), der bezahlbare Lebensunterhalt (ca. 1/3 des Einkommens), eine garantierte soziale Sicherheit eben. Und im Winter gab es Kuba-Orangen, im Sommer Kirschen aus Werder, jedenfalls in Berlin, im Herbst Äpfel. In jeden Ferien gab es Ferienlager, bezahlbare, versteht sich, im Thüringer Wald, in der ÈSSR oder an der Ostsee. Und nach 12 Jahren Wartezeit einen Trabant. "Die Regeln waren eindeutig. Der Spielraum war überschaubar … Eine relative Ruhe, eine relative Zufriedenheit”, nennt Hans-Joachim Maaz, Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut, diesen Zustand. Existenzängste und Sorgen um die Zukunft der Kinder blieben ausgeschlossen, wenn auch oft die Zukunftswünsche auf einem anderen Blatt standen als die Möglichkeiten. Doch die Überschaubarkeit und Sicherheit barg eine Falle: die Unbeweglichkeit schlug ihre Haken in die "relative Ruhe” und stabilisierte sie, die Anpassungsbereitschaft und "Anpassungsleistung” wuchsen.
Das Einfließen von Distanz
In die Aufzählung der Veränderungen oder Verluste seit 1989/90 gehören ebenso die Gerüche, die Farben, Formen und Geräusche, die Landschaft und der Humor, die Sprache und die Rituale. Vielleicht klingt es nach einem immer wieder bemühten Beispiel, aber nichts war normaler im DDR-Alltag (wenigstens für die heute 35- bis 50-Jährigen), als ohne telefonische Anmeldung – wie auch – und ohne eine mindestens einwöchige Vorverabredungszeit an der Wohnungstür der Freunde klingeln zu können und das, ohne dadurch deren persönlichen Raum zu verletzen. Heute gelingt es oft gar nicht, auch nur einen Zeh in den persönlichen Raum hineinzusetzen, eine persönliche Frage wird prompt mit "zu privat” aus dem Gespräch geworfen. Vielleicht hat ja mein Zeh nichts im privaten Raum des anderen zu suchen. Wem aber stehe ich dann gegenüber? Wen berühre ich in meinem Sprechen?
"Scheinbar” ohne Marktwert
Die Verabredungen in der DDR wurden weder von Zeitdruck noch von Distanz diktiert. Hinter den Wohnungstüren nahm immer auch ein Gemeinschaftsgefühl Platz, die gewohnte Erfahrung einer existenziellen Gemeinsamkeit, die einen wesentlich aufrichtigeren und unverstellteren Umgang miteinander zuließ. Weder der Anzug, das Make-up, die neue Brille noch eine Geste oder die passende Formulierung wurden am aktuellen Marktwert gemessen. Die Statusleiter und das Gerangel um ihre Stufen waren keine ständigen Begleiter. Was nicht heißen soll, dass derjenige, der eine Levis 501 trug, nicht beneidet wurde. Aber damit war eben nur klar, der hat Westgeld oder wenigstens einen Westonkel. Der aufgemotzte Schein verlor sich in Nischen. Und das dressierte Auftreten hatte in erster Linie Gemeinschaftscharakter, z. B. bei verordneten Massenkundgebungen vor abnickenden greisen Regierungshäuptern.
Perspektiven schaffen Erkenntnisse
Sie sind selten, die Augenblicke, in denen ich heute unangemeldet vor der Wohnung eines Freundes stehe, häufiger sind jene, in denen ich diese Wohnung spät am Abend wieder verlasse, ohne einen Pfauentanz aufgeführt oder empfangen zu haben. Und vielleicht führen meine Wege öfter an mecklenburgischen, brandenburgischen oder thüringischen Dörfern vorbei, denen das Leben anzusehen ist, ohne verwahrlost zu sein, und die nicht ins Uniforme geglättet und geputzt sind. Wie viele Farben, Gerüche, Formen, wie viel Sprache, Sehen und Gesehenwerden allein zwischen zwei Punkten oder Perspektiven, zwischen einem A und einem B möglich sind, konnte ich gerade wieder entdecken, als ich mich sowohl hinter das A als auch hinter das B gestellt habe, um das jeweils Gegenüberliegende zu betrachten. Übrigens, 'man' sagen die Menschen im Osten wie im Westen gleichermaßen gern. Es schützt einfach besser. Ich hab es dennoch ohne versucht.
Autor/in: Irina Strelow (punctum, Bonn), 01.02.2003